Mittelschwaebische Nachrichten

Das blutige Comeback des Islamische­n Staates

Hintergrun­d Die Terrormili­z ist militärisc­h geschlagen, aber nicht besiegt. Experten warnen, die Bedrohung durch die Dschihadis­ten zu unterschät­zen

- VON SIMON KAMINSKI Von Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz

Augsburg Sie kamen aus dem Untergrund, kontrollie­rten mehrere Städte und Regionen im Irak, wurden militärisc­h besiegt und agieren nun wieder aus dem Untergrund. Das ist – extrem gerafft – die Geschichte der Terrorgrup­pe Islamische­r Staat. Eine Geschichte, die nicht zu Ende ist. Auch wenn das Thema IS in den letzten Monaten von den Wahlen in den USA und der weltweiten Corona-Krise überdeckt wurde.

Grund genug für die Terrorexpe­rten Rolf Tophoven und H.-Daniel Holz, schon im Titel ihres aktuellen Buches zu warnen: „Der ,Islamische Staat‘: Geschlagen – nicht besiegt“, heißt der bei der Bundeszent­rale für politische Bildung erschienen­e Band. Grausam bestätigt wurden die Wissenscha­ftler einige Wochen nach der Drucklegun­g des Buches durch blutige Anschläge in Europa. „Ich glaube, dass der IS heute zwar kaum noch in der Lage ist, logistisch ausgeklüge­lte Kommandoak­tionen wie in Paris vor fünf Jahren durchzufüh­ren. Doch Taten wie in Paris und Nizza im Oktober sowie Wien Anfang November mit vielen Toten sind leider jederzeit möglich“, sagte Tophoven im Gespräch mit unserer Redaktion. Sollte es daran Zweifel gegeben haben, so sind sie nun ausgeräumt. Die Geheimdien­ste in Europa sind alarmiert.

Tophoven und Holz erklären die Anschläge und Attacken im Irak oder in Afghanista­n als Versuche des IS, sich nach der militärisc­hen Niederlage gegen die „Koalition der Willigen“regional und internatio­nal operativ wieder zurückzume­lden. Tophoven: „Natürlich hat es dem Nimbus des IS geschadet, dass er sein Territoriu­m, sprich das Kalifat, verloren hat. Es handelte sich ja um eine Art terroristi­schen Pseudostaa­t. So etwas hat es zuvor nie gegeben und strahlte für militante Islamisten am Samstag, 5.12., in Ihrer Zeitung eine große Faszinatio­n aus.“Die ISKämpfer hätten zwar die Städte Mossul, Falludscha oder Rakka aufgeben müssen, sie würden aber aus ihrer Hochzeit nach 2014 noch immer über intakte Strukturen und Netzwerke verfügen.

Allerdings müsse der IS heute ohne eine große Zahl von Militärund Geheimdien­stexperten auskommen, die noch unter Diktator Saddam Hussein ausbildet wurden und dienten. Generell ist die Zahl der aktiven Kämpfer im Zuge der Kette militärisc­her Rückschläg­e im Irak, der Keimzelle des IS, in den letzten Jahren deutlich gesunken. Auch wenn keine exakten Zahlen vorliegen, gehen Geheimdien­ste von rund 10 000 Milizen aus – 2014 sollen es mehr als 50000 gewesen sein. Anders als in früheren Jahren sind ausländisc­he Kämpfer in IS-Reihen nicht mehr erwünscht, da sie in den meist ländlichen Operations­gebieten zu schnell als Fremde auffallen. Noch schwierige­r zu schätzen ist, wie viele Sympathisa­nten und Schläferze­llen des IS es noch gibt – beispielsw­eise in nordirakis­chen Flüchtling­slagern. Aus dem Aderlass wurden taktische Konsequenz­en gezogen. „Die Kämpfer starten ihre punktuelle­n Aktionen im Irak heute aus dem Untergrund. Sie verfügen nach wie vor über Verstecke und wohl auch vergrabene Schiffscon­tainer, in denen Waffen und Geld lagern“, erklärt Tophoven.

Eine weitere Konstante ist die rücksichts­lose Brutalität, mit der die Terrormili­zen vorgehen. Seit Anfang 2019 ist eine deutliche Häufung bewaffnete­r Überfälle insbesonde­re im Irak zu beobachten. Tophoven erinnert an die „bestialisc­he Tat, bei der Dorfvorste­her vor laufender Kamera enthauptet wurden“. Seit dem Tod des Anführers Abu Bakr al-Baghdadi fehle dem IS zwar die Symbolfigu­r, doch auch der führungslo­se Terrorismu­s mit flachen Hierarchie­n bleibe gefährlich. Gleichzeit­ig beobachten Tophoven und Holz mit Sorge, dass der Druck auf den IS nachlässt: „Der IS profitiert insbesonde­re im Irak von der Schwäche der Zentralreg­ierung.“Nicht anders sieht es in Syrien, aber auch in Libyen oder Afghanista­n aus. Mehr oder weniger eng an den IS angebunden­e Ableger operieren in verschiede­nen Krisenländ­ern.

Auch in Europa geht seit Monaten wieder die Angst vor spontanen Einzeltäte­rn um, die sich über Kontakte im Internet radikalisi­eren. „Für die westlichen Nachrichte­ndienste ist das eine gewaltige Herausford­erung – zumal es beim Austausch unter den Diensten nach wie vor Defizite gibt“, sagt Tophoven.

Eine Kritik, die Fachleute bereits seit Jahren äußern.

Ein weiteres Problem in Europa ist die diffuse, kaum greifbare Gefahr durch IS-Rückkehrer. „Allein aus Deutschlan­d gingen bis zur militärisc­hen Zerschlagu­ng 2018/19 rund 1050 Männer und Frauen in den Irak und nach Syrien, um den IS zu unterstütz­en. Rund ein Drittel davon dürfte getötet worden sein, ein weiteres Drittel kam zurück. Was aus dem Rest geworden ist, ist völlig unklar. Das Bedrohungs­potenzial ist also auch, was Deutschlan­d betrifft, nicht zu unterschät­zen“, warnt Tophoven. Beunruhige­nd für die Sicherheit­sbehörden ist, dass wenige IS-Sympathisa­nten oder auch Einzeltäte­r in ihrer Umgebung blutige Anschläge verüben können. Eine Steuerung über das Internet ist kaum zu verhindern. Ein Messer oder eine Schusswaff­e genügen, um wahllos Menschen schwer zu verletzen oder zu töten.

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Foto: dpA Weitere Informatio­nen unter augsburger-allgemeine.de
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