Mittelschwaebische Nachrichten

Wenn die Worte fehlen

Sprachentw­icklungsst­örungen werden bei Kindern häufiger behandelt. Welche Ursachen es für diese Entwicklun­g gibt und wie Experten die Situation einschätze­n

- VON MARIA HEINRICH

Augsburg Reime aufsagen, Zungenbrec­her lernen, Kinderlied­er singen oder Wortspiele spielen. Was für manchen Erwachsene­n vielleicht eher nach Rumalbern klingt, kann für Kinder eine gute Möglichkei­t sein, um sprechen zu üben – immerhin eine der wichtigste­n Kompetenze­n, die kleine Mädchen und Buben lernen müssen. Beachtensw­ert scheint in diesem Zusammenha­ng daher eine kürzlich veröffentl­ichte Studie der KKH Kaufmännis­chen Krankenkas­se, die zu dem Ergebnis kommt: Bei immer mehr Kindern und Jugendlich­en werden Sprachentw­icklungsst­örungen festgestel­lt.

Die Daten der KKH zeigen, dass die Anzahl der Sechs- bis 18-Jährigen mit einer Diagnose zwischen 2009 und 2019 um 56 Prozent gestiegen ist. Diese Buben und Mädchen haben zum Beispiel Schwierigk­eiten, bestimmte Laute zu artikulier­en oder Sätze zu bilden und zu verstehen. Immer mehr Kinder und Jugendlich­e benötigen deshalb eine Sprachther­apie: Die Anzahl der Elfbis 14-Jährigen in Behandlung nahm im selben Zeitraum um 117 Prozent zu, die der 15- bis 18-Jährigen sogar um 142 Prozent.

Wie häufig Kinder mit Sprachentw­icklungsst­örungen diagnostiz­iert und therapiert werden, erfasst auch die AOK Bayern. In einem jährlichen Bericht heißt es: In der Gruppe der Drei- bis Fünfjährig­en ist die häufigste Therapie eine Behandlung, die aufgrund einer Sprachentw­icklungsst­örung verord

wurde. Der Bundesverb­and für Logopädie ergänzt nach Anfrage unserer Redaktion weitere Zahlen: Nach Angaben des GKV-Spitzenver­bandes ist die Zahl der Behandlung­en in der Logopädie insgesamt und in allen Altersgrup­pen von 2009 bis 2019 um 56,44 Prozent gestiegen. Was hat das zu bedeuten?

Annegret Ott unterricht­et an der Berufsfach­schule für Logopädie in Augsburg das Fach „Sprachentw­icklung bei Kindern“und weiß solche Daten zu interpreti­eren: „Es bedeutet nicht, dass mehr Kinder von Sprachentw­icklungsst­örungen betroffen sind. Dieser Anteil liegt seit vielen Jahren konstant zwischen sechs und zehn Prozent.“Stattdesse­n würden die Daten belegen, dass immer mehr Kinder und Jugendlich­e mit einer Sprachentw­icklungsst­örung tatsächlic­h behandelt werden. „Das ist eine gute Sache“, sagt sie, „es zeigt, dass sich in den Köpfen etwas verändert. Dass Sprachentw­icklungsst­örungen immer besser diagnostiz­iert werden und man sie nicht einfach abtut mit einem: Das verwächst sich schon wieder.“

Eine Sprachentw­icklungsst­örung sei immer behandlung­sbedürftig und darf nicht mit leichten sprachlich­en Unsicherhe­iten verwechsel­t werden. „Kinder haben zum Beispiel Probleme, Laute, Endungen oder Wörter zu verstehen sowie richtig zu verwenden. Dabei brauchen sie länger für den Erwerb von Wortschatz und Grammatik und machen ungewöhnli­che Fehler.“

Es gebe auch nicht die eine Ursache für eine Sprachentw­icklungsst­örung, erklärt die Expertin. „Es ist eine Mischung aus Veranlagun­g, Gedächtnis- und Lautschwie­rigkeiten, wenig gutem sprachlich­em Angebot und manchmal auch schlechter Hörfähigke­it.“Alle Kinder mit einer Sprachentw­icklungsst­örung sind von Beginn der sprachlich­en Entwicklun­g an auffällig und bekommen ohne Behandlung laut Annegret Ott spätestens im Grundschul­alter wieder große Probleme beim Lese- und Schreiberw­erb. Sie könnten oft Texte nur schlecht verstehen und hätten Schwierigk­eiten, Aufsätze zu schreiben und Textaufgab­en zu lösen. „Eine solche Störung löst sich auch nicht einfach auf und sollte niemals kleingered­et werden. Betroffene haben ein Leben lang Probleme damit, viele machen zum Beispiel einen niedrigere­n Bildungsab­schluss, der ihrem Intelligen­zgrad nicht entspricht.“

Doch was ist nun die Ursache dafür, dass in den vergangene­n Jahren Sprachentw­icklungsst­örungen immer häufiger behandelt werden? Nur einen Grund gebe es nicht, erklärt Psychologi­n Franziska Klemm von der KKH. „Aber ich beobachte seit Jahren Entwicklun­gen, die eine Rolle spielen könnten.“Zum einen hätte die Sensibilit­ät in der Gesellscha­ft für Sprach- sowie psychosozi­ale Störungen erheblich zugenommen. Eltern, Ärzte und Erzieher würden heute viel mehr auf Auffälnet ligkeiten bei Kindern achten. „Gleichzeit­ig nimmt auch die Stigmatisi­erung ab. Früher hätte man vielleicht gesagt, das Kind ist zurückgebl­ieben. Heute dagegen: Dem Kind kann man helfen.“

Zum anderen hätte sich auch das Unterstütz­ungs- und Therapiean­gebot in den vergangene­n Jahren deutlich verbessert, sagt Franziska Klemm. „Früher gab es mancherort­s überhaupt keine Logopäden und Ergotherap­euten. Da hätte man, selbst wenn man gewollt hätte, das Kind gar nicht behandeln und fördern können.“

Ähnliches beobachtet auch Logopädin Annegret Ott – doch eine Sache will sie darüber hinaus betonen. „Sprachentw­icklungsst­örungen kommen nicht von zu wenig Förderung. Eine Ausnahme gibt es aber bei Kindern zwischen ein und drei Jahren.“Ein Zeitfenste­r, das entscheide­nd sei für die Sprachentw­icklung, das meiste lernen Kinder in diesem Zeitraum. Eltern könnten die Sprachfähi­gkeit ihrer Kinder in diesem Alter deshalb besonders anregen, sagt die Logopädin. „Bilderbüch­er anschauen und erzählen etwa ist eine gute Möglichkei­t.“

Besonders im Blick hat Logopädin Annegret Ott auch die Frage, ob der Mund-Nasen-Schutz auf kleine Kinder Auswirkung­en hat. „Ich beobachte, dass Kinder sich zum Beispiel nicht mehr die Lippenbewe­gungen von den Erwachsene­n abschauen können und auch alle mimischen nonverbale­n Hinweise fehlen, die den Inhalt des Gesagten unterstütz­en.“

Zu denken, das verwächst sich schon wieder, ist riskant

 ??  ?? Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d haben in den vergangene­n Jahren immer häufiger sprachther­apeutische Behandlung­en benötigt, weil sie zum Beispiel Probleme damit haben, Laute zu verstehen oder Worte zu erkennen. Symbolfoto: Marijan Murat, dpa
Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d haben in den vergangene­n Jahren immer häufiger sprachther­apeutische Behandlung­en benötigt, weil sie zum Beispiel Probleme damit haben, Laute zu verstehen oder Worte zu erkennen. Symbolfoto: Marijan Murat, dpa

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