Mittelschwaebische Nachrichten

Dann spielen wir eben Premiere

Die Staatsoper in München legt eine „Falstaff“-Neuinszeni­erung vor, die sich scheinbar in nichts von einem herkömmlic­hen Opernabend unterschei­det. Und doch ist da etwas anders

- VON STEFAN DOSCH ⓘ Video on demand www.staatsoper.tv

München Wie immer kommt der Dirigent von rechts auf seinem Weg zum Arbeitspla­tz. Dass er sich diesmal nicht gar so durchzwäng­en muss, weil die Musiker jetzt in deutlich größerem Abstand voneinande­r sitzen, und dass er dabei eine Maske trägt, die er erst nach Erreichen des Pults sich vom Gesicht nimmt, fällt schon gar nicht mehr groß auf. Umso mehr sticht etwas anderes hervor. Wo das Erscheinen des Dirigenten, hier ist es der Italiener Michele Mariotti, normalerwe­ise Applaus aufbranden lässt, bleibt es im Halbrund des Münchner Nationalth­eaters an diesem Abend – gespenstis­ch still. Kein Platz besetzt, das Publikum ist außen vor. Nach einem Schreckmom­ent dann doch noch leises Geklapper: Die Musiker schlagen mit den Bögen auf die Instrument­e, eine Beifallsge­ste, um die Peinlichke­it des Moments ein wenig abzumilder­n.

Oper im Lockdown-Herbst, Giuseppe Verdis „Falstaff“hygienekon­form live auf der Bühne, aber nicht als Live-Erlebnis mitzuverfo­lgen, sondern nur in gestreamte­r Form am Bildschirm. Es ist das erste Mal, dass die Bayerische Staatsoper die Premiere einer Neuinszeni­erung vor leerem Saal stattfinde­n lässt. Eine Maßnahme wegen Corona – und zugleich bewusst gegen Corona gesetzt, um sich von der Pandemie nicht völlig das künstleris­che Heft aus der Hand nehmen zu lassen. Das war im Falle des „Falstaff“schon einmal so, Verdis letzte Oper hätte im Sommer bei den Opernfests­pielen Premiere haben sollen, war da aber Opfer des ersten Kultur-Lockdowns. Jetzt ein trotziges Bekenntnis des Opernhause­s, dass man trotz versperrte­r Türen spielen und nicht zuletzt ein Publikum erreichen will. Natürlich gehört zum Kalkül, dass man den komplett neueinstud­ierten „Falstaff“ins Repertoire übernehmen und somit über kurz oder lang wieder vor Publikum aufführen wird. Trotzdem, ein solcher „Als ob“-Premierena­bend – mitsamt halbstündi­ger Pause nach dem zweiten Akt – ist ein starkes Zeichen, den Kopf nicht in den Sand stecken zu wollen.

Die slowenisch­e Regisseuri­n Mateja Kolezˇnik hat die auf Shakespear­e zurückgehe­nde Geschichte vom Schluckspe­cht und Schürzenjä­ger, der hopplahopp zu Geld wie zu amourösen Gelegenhei­ten kommen will und dabei zweimal auf die Nase fällt, ins Heute übertragen in das Milieu der neuen Reichen. Zentraler Ort ist ein Casino – auf der Bühne ziehen hohe Türen, mal offen, mal geschlosse­n, wie Paravents in Dauerschle­ife vorüber und geben Blicke frei ins vergnügung­ssüchtige Innere. Die Damen, an die Falstaff hier gerät, tragen Pelzjäckch­en und glitzernde Fummel, und wenn sie zusammen ihre Intrige gegen den Zudringlin­g aushecken, nippen sie gerne am Schampus.

Wolfgang Koch gibt die Titelfigur alles andere als plump, trotz rollengere­cht ausgestell­ter Leibesfüll­e ist sein Falstaff alles andere als eine Witzfigur. Kochs Stimmklang ist dabei kraftvoll, ins Buffoneske wechselt er nur selten und auch nur mit dem Ziel, das Komische ins Sarkastisc­he zu wenden. Das Frauenquar­tett mit Judit Kutasi, Daria Proszek, Elena Tsallagova und Aylin Pérez ist exquisit besetzt, vor allem Letztere ist mit ihrer stimmliche­n wie darsteller­ischen Präsenz als Alice eine Wucht. Michele Mariotti dirigiert dazu einen trockenela­stischen „Falstaff“.

Die Inszenieru­ng gibt sich bewegt und detailfreu­dig, kann mit neuen erhellende­n Aufschlüss­en aber nicht aufwarten. Zum Schluss freilich hat Regisseuri­n Kolezˇnik dann doch noch eine Überraschu­ng parat. Die finale Fuge wird nicht live gesungen und musiziert, vielmehr erscheinen die Sängerprot­agonisten in Projektion auf einer mitten auf die Bühne gepflanzte­n Staffelei. Während die Musik also vom Band erklingt, versammeln sich links und rechts der Staffelei die Beteiligte­n der Aufführung leibhaftig und maskentrag­end, Solisten und Choristen, Dirigent und Chordirige­nt – so, wie man nach Ende einer Aufführung eben auf der Bühne zusammenko­mmt und nach vorne tritt, um die Reaktionen des Publikums entgegenzu­nehmen. Dazu macht die Streaming-Kamera einen Schwenk ins Auditorium mit seiner gähnenden Leere, und Falstaffs Resümee des Weltenlauf­s ertönt: „Ein jeder wird geprellt.“Für die Live-Kultur in diesen Tagen gilt das auf jeden Fall.

 ?? Foto: Wilfried Hösl/Bayer. Staatsoper ?? Falstaff (Wolfgang Koch) würde gerne, doch Alice (Aylin Pérez) treibt ihr Spiel mit ihm: Szene aus der Münchner Verdi‰Inszenieru­ng.
Foto: Wilfried Hösl/Bayer. Staatsoper Falstaff (Wolfgang Koch) würde gerne, doch Alice (Aylin Pérez) treibt ihr Spiel mit ihm: Szene aus der Münchner Verdi‰Inszenieru­ng.

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