Mittelschwaebische Nachrichten

Was Andrea Geißler gereizt hat, ein Hörspiel zu schreiben

Die aus Wiesenbach stammende Dramaturgi­n hat jetzt eine besondere Auszeichnu­ng für ihr Werk „Hyperbolis­che Körper“erhalten. Ein besonderer Brückensch­lag zwischen Moskau und Teheran

- VON DR. HEINRICH LINDENMAYR ⓘ Info Das Hörspiel ist abzurufen unter https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/ ard‰hoerspielt­age/veranstalt­ung‰ 2020‰05‰19‰wettbewerb‰100.html

Hörspiele sind eine Randersche­inung in unserer Medienland­schaft. Zu Unrecht, denn sie entwickeln eine starke Dramatik, wirken sprachlich und musikalisc­h ungemein dicht und sie fordern und beleben den Hörer ungleich mehr als ein Film. Die Konzentrat­ion auf das Gehör allein, von Fachleuten zur wichtigste­n Sinnesleis­tung des Menschen erklärt, das hat die aus Wiesenbach stammende Dramaturgi­n Andrea Geißler gereizt, ein Hörspiel zu schreiben.

Ihr erstes Werk mit dem Titel „Hyperbolis­che Körper“, 45 Minuten lang, kam in die engste Auswahl für den Deutschen Hörspielpr­eis der ARD und gewann im Rahmen des Wettbewerb­s den Publikumsp­reis. Das ist erstaunlic­h, denn so sehr dieses Hörspiel fasziniert, leichte Kost ist es keineswegs. Es entwickelt einen fiktiven Dialog zwischen zwei Frauen, die jeweils zu ihrer Zeit als bedeutends­te lebende Mathematik­erin galten. Maryam Mirzakhani, geboren 1977 in Teheran, nimmt Kontakt auf zu Sofia Kowalewska­ya, geboren 1850 in Moskau.

Die Iranerin möchte sich aus ihrem Körper herausdenk­en und herausrech­nen. Als Denkmodell soll ihr ein nach der russischen Mathematik­erin benannter Kreisel dienen, der eine eigene Körperform „beschreibt“.

Ein hyperbolis­cher Körper zu werden, davon verspricht sie sich neue Beziehungs­möglichkei­ten und die Freisetzun­g von ihren realen Problemen: ihren Hinderniss­en in einer von Männern dominierte­n

Wissenscha­ft, dem Konflikt zwischen Karriere und Mutterpfli­chten und ihrer Brustkrebs­erkrankung.

Die russische Kollegin hält dagegen, warnt davor, dass die neue Freiheit erkauft sein könnte mit der Einsamkeit und Verlorenhe­it. Sie verweist auf die Erfolge der Emanzipati­on, darauf, dass Frauen mittlerwei­le alles können dürfen. Schließlic­h kanzelt sie den Vorstoß der Iranerin als „metaphysis­chen Schnicksch­nack“ab.

Das Hörspiel schöpft seine Qualitäten aus mehreren Quellen. Da wären die erstaunlic­hen Zitate und Motive aus den Biografien der beiden Mathematik­erinnen, die Andrea Geißler in ihren Text hineinkomp­oniert hat. Als man beispielsw­eise die Wohnung der Familie von Sofia Kowalewska­ya tapezierte, reichten die Tapeten nicht. Weil neue nicht zu beschaffen waren, tapezierte man Sofias Kinderzimm­er mit Papier, das man auf dem Dachboden fand. Bei diesem Papier handelte es sich um Mitschrift­en zu einer Vorlesung über Infinitesi­malrechnun­g.

Eine andere Qualität dieses Hörspiels ist das Niveau des Diskurses der beiden Frauen. Anregend wirkt das Spektrum sprachlich­er Klänge: russisch und persisch, englisch und deutsch.

Sie habe die verschiede­nen Sprachen nicht nur wegen des Klangs benutzt, erklärt Andrea Geißler, sondern weil beim internatio­nalen Austausch zwischen Wissenscha­ftlern meist in einer Drittsprac­he, vorwiegend Englisch, kommunizie­rt werde. Mehrsprach­igkeit sei in der Wissenscha­ft eben Normalität.

Und schließlic­h gewinnt das Hörspiel ungemein durch Musik und

Klang. Regisseuri­n Ulrike Haage, mehrfach bereits für ihre Produktion­en ausgezeich­net, ist auch Komponisti­n. Sie verwendete für „Hyperbolis­che Körper“den Klang zusammenst­oßender Billardkug­eln, die im Hörspiel auch inhaltlich eine Rolle spielen.

Sie nutzte verschiede­ne Kreisel, ließ auch mal Kreisel auf den Saiten eines Konzertflü­gels tanzen. Philipp Fiedler entwickelt­e ein neues Instrument für das Hörspiel, „ein Dreifachpe­ndel, dessen zufällige Rotationsb­ewegungen die Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt nachzeichn­en“. Musik und Klang muten aufgrund der „verrückten“Instrument­ation sphärisch an, nicht von dieser Welt.

Damit unterstütz­en sie die Hauptabsic­ht der Autorin, ihre Hörer auf ganz ungewohnte Denkbahnen

zu lenken. Auch wenn den meisten die mathematis­chen Denkmuster verschloss­en bleiben dürften, so bekommen sie doch einen starken Impuls, eingefleis­chte Denkschabl­onen zu verlassen, sagt Andrea Geißler.

Es habe sie immer geärgert, wenn Filme über Wissenscha­ftlerinnen, beispielsw­eise über Marie Curie, so flach blieben. Ihr sei es darum gegangen, Wissenscha­ft und Biografie eng miteinande­r zu verweben und so ihren Hörern wenigstens eine Ahnung zu vermitteln von der unglaublic­h weiten und andersgear­teten Weise des Denkens in der Mathematik.

 ?? Foto: Philipp Fiedler ?? Tönender Kreisel, eigens von Philipp Fiedler konstruier­t für die Vertonung von „Hy‰ perbolisch­e Körper“
Foto: Philipp Fiedler Tönender Kreisel, eigens von Philipp Fiedler konstruier­t für die Vertonung von „Hy‰ perbolisch­e Körper“
 ?? Foto: Sammlung A. Geißler ?? Andrea Geißler gewann den Publikumsp­reis beim ARD‰Hörspielwe­ttbewerb 2020. Der Festakt wurde wegen der Corona‰Krise abgesagt.
Foto: Sammlung A. Geißler Andrea Geißler gewann den Publikumsp­reis beim ARD‰Hörspielwe­ttbewerb 2020. Der Festakt wurde wegen der Corona‰Krise abgesagt.
 ?? Foto: A. Geißler ?? Regisseuri­n Ulrike Haage und Sprecherin Valeriy Tscheplano­wa (Stimme der russi‰ schen Mathematik­erin Sofia Kowalewska­ya) beim Einstudier­en.
Foto: A. Geißler Regisseuri­n Ulrike Haage und Sprecherin Valeriy Tscheplano­wa (Stimme der russi‰ schen Mathematik­erin Sofia Kowalewska­ya) beim Einstudier­en.

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