Mittelschwaebische Nachrichten
Was Andrea Geißler gereizt hat, ein Hörspiel zu schreiben
Die aus Wiesenbach stammende Dramaturgin hat jetzt eine besondere Auszeichnung für ihr Werk „Hyperbolische Körper“erhalten. Ein besonderer Brückenschlag zwischen Moskau und Teheran
Hörspiele sind eine Randerscheinung in unserer Medienlandschaft. Zu Unrecht, denn sie entwickeln eine starke Dramatik, wirken sprachlich und musikalisch ungemein dicht und sie fordern und beleben den Hörer ungleich mehr als ein Film. Die Konzentration auf das Gehör allein, von Fachleuten zur wichtigsten Sinnesleistung des Menschen erklärt, das hat die aus Wiesenbach stammende Dramaturgin Andrea Geißler gereizt, ein Hörspiel zu schreiben.
Ihr erstes Werk mit dem Titel „Hyperbolische Körper“, 45 Minuten lang, kam in die engste Auswahl für den Deutschen Hörspielpreis der ARD und gewann im Rahmen des Wettbewerbs den Publikumspreis. Das ist erstaunlich, denn so sehr dieses Hörspiel fasziniert, leichte Kost ist es keineswegs. Es entwickelt einen fiktiven Dialog zwischen zwei Frauen, die jeweils zu ihrer Zeit als bedeutendste lebende Mathematikerin galten. Maryam Mirzakhani, geboren 1977 in Teheran, nimmt Kontakt auf zu Sofia Kowalewskaya, geboren 1850 in Moskau.
Die Iranerin möchte sich aus ihrem Körper herausdenken und herausrechnen. Als Denkmodell soll ihr ein nach der russischen Mathematikerin benannter Kreisel dienen, der eine eigene Körperform „beschreibt“.
Ein hyperbolischer Körper zu werden, davon verspricht sie sich neue Beziehungsmöglichkeiten und die Freisetzung von ihren realen Problemen: ihren Hindernissen in einer von Männern dominierten
Wissenschaft, dem Konflikt zwischen Karriere und Mutterpflichten und ihrer Brustkrebserkrankung.
Die russische Kollegin hält dagegen, warnt davor, dass die neue Freiheit erkauft sein könnte mit der Einsamkeit und Verlorenheit. Sie verweist auf die Erfolge der Emanzipation, darauf, dass Frauen mittlerweile alles können dürfen. Schließlich kanzelt sie den Vorstoß der Iranerin als „metaphysischen Schnickschnack“ab.
Das Hörspiel schöpft seine Qualitäten aus mehreren Quellen. Da wären die erstaunlichen Zitate und Motive aus den Biografien der beiden Mathematikerinnen, die Andrea Geißler in ihren Text hineinkomponiert hat. Als man beispielsweise die Wohnung der Familie von Sofia Kowalewskaya tapezierte, reichten die Tapeten nicht. Weil neue nicht zu beschaffen waren, tapezierte man Sofias Kinderzimmer mit Papier, das man auf dem Dachboden fand. Bei diesem Papier handelte es sich um Mitschriften zu einer Vorlesung über Infinitesimalrechnung.
Eine andere Qualität dieses Hörspiels ist das Niveau des Diskurses der beiden Frauen. Anregend wirkt das Spektrum sprachlicher Klänge: russisch und persisch, englisch und deutsch.
Sie habe die verschiedenen Sprachen nicht nur wegen des Klangs benutzt, erklärt Andrea Geißler, sondern weil beim internationalen Austausch zwischen Wissenschaftlern meist in einer Drittsprache, vorwiegend Englisch, kommuniziert werde. Mehrsprachigkeit sei in der Wissenschaft eben Normalität.
Und schließlich gewinnt das Hörspiel ungemein durch Musik und
Klang. Regisseurin Ulrike Haage, mehrfach bereits für ihre Produktionen ausgezeichnet, ist auch Komponistin. Sie verwendete für „Hyperbolische Körper“den Klang zusammenstoßender Billardkugeln, die im Hörspiel auch inhaltlich eine Rolle spielen.
Sie nutzte verschiedene Kreisel, ließ auch mal Kreisel auf den Saiten eines Konzertflügels tanzen. Philipp Fiedler entwickelte ein neues Instrument für das Hörspiel, „ein Dreifachpendel, dessen zufällige Rotationsbewegungen die Bewegung eines starren Körpers um einen festen Punkt nachzeichnen“. Musik und Klang muten aufgrund der „verrückten“Instrumentation sphärisch an, nicht von dieser Welt.
Damit unterstützen sie die Hauptabsicht der Autorin, ihre Hörer auf ganz ungewohnte Denkbahnen
zu lenken. Auch wenn den meisten die mathematischen Denkmuster verschlossen bleiben dürften, so bekommen sie doch einen starken Impuls, eingefleischte Denkschablonen zu verlassen, sagt Andrea Geißler.
Es habe sie immer geärgert, wenn Filme über Wissenschaftlerinnen, beispielsweise über Marie Curie, so flach blieben. Ihr sei es darum gegangen, Wissenschaft und Biografie eng miteinander zu verweben und so ihren Hörern wenigstens eine Ahnung zu vermitteln von der unglaublich weiten und andersgearteten Weise des Denkens in der Mathematik.