Mittelschwaebische Nachrichten
Ohne die Linde würde Nattenhausen etwas fehlen
Vor 150 Jahren wurde in Nattenhausen die Friedenslinde gepflanzt. Was sie alles erlebt hat und wie es ihr heute geht
Sie gilt als eine der schönsten und größten Laubbäume in Europa und ist der Liebling der Bienen. Die Rede ist von der Linde, die bis zu 40 Meter hoch werden kann. Eine Linde steht auch in Nattenhausen, mitten im Ort, unweit der Pfarrkirche St. Laurentius und des Gemeindehauses. Und das seit nunmehr 150 Jahren. Gepflanzt als Friedenslinde ist sie längst zum „Heimatsymbol“und „Naturdenkmal“befördert worden.
Es war am Sonntag, 12. März 1871, als sich – wie in vielen anderen Orten auch – die Bürger zum „Tag der kirchlichen Friedensfeier“und „politischen Friedensfest“versammelten. Anlass war das Ende des Deutsch-Französischen Krieges. Die militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich einerseits und dem Norddeutschen Bund andererseits begann am 10. Juli 1870. Zwar endete der Krieg offiziell erst am 20. Mai 1871 mit dem „Frieden von Frankfurt“, doch wurde bereits im Februar 1871 der „Vorfrieden von Versailles“besiegelt. Die Menschen beider Nationalitäten atmeten auf.
Das verdeutlicht auch ein Zeitungsbericht über die Friedensfeier in Nattenhausen, erschienen am 14. März 1871 im „Krumbacher Bote“. Darin heißt es unter anderem: „Die Nattenhauser können stolz sein über den Verlauf ihrer Feier, hatte sich doch der ganze Ort in ein Festgewand gekleidet, flaggten doch von jedem Hause mächtige Fahnen, ertönten doch den ganzen Tag über Böllerschüsse, hatte sich doch abends das ganze Dorf durch sinnige und ebenso schöne Beleuchtung in ein Feuermeer versetzt – alles würdig des Tages, dem es galt. Unter den schön dekorierten und beleuchteten Gebäuden sei namentlich das Schulhaus erwähnt, das die Hand des Herrn Lehrers Fuchs daselbst in märchenhaften Glanz eingehüllt hatte. Vor einer kurz zuvor gepflanzten Friedenslinde trug die männliche und weibliche Schuljugend auf eine von ihm gehaltene Festrede zeitgemäße Gedichte und Lieder vor. Ansprachen und Toaste folgten hier im Freien und später im dortigen Wirtshaussaal bei einer guten Blechmusik. Frohsinn war überall.“
Die Friedenslinde wurde fortan gehegt und gepflegt und wuchs zu einem stattlichen Baum heran, der mit seiner Größe dem benachbarten 25 Meter hohen Kirchturm fast das Wasser reichen kann. Könnte die Linde reden, sie könnte viel erzählen. In 150 Jahren hat sie Generationen kommen und gehen sehen. Bürger, die im ersten und Zweiten Weltkrieg an die Front einberufen wurden, haben beim Abschied aus dem Heimatort einen letzten sehnlichen Blick auf die Friedenslinde geworfen in der Hoffnung, diese bald wieder zu sehen.
Hochzeitszüge zur Kirche und zum Gasthaus sowie Trauerzüge – als die Toten noch von ihrer Wohnung zum Friedhof geleitet wurden – führten unter der Baumkrone hindurch, ebenso wie Palm- und Fronleichnamsprozessionen oder die Festumzüge bei Jubiläumsfesten der örtlichen Vereine. Nicht zuletzt „thronte“der Baum über den vom Schützenverein veranstalteten Weihnachtsmärkten und er ist seit Jahren bei entsprechender Witterung freitags und samstags ein beliebter „Stamm-Tisch-Bruder“, wenn Nattenhauser Bürger unter seinem Geäst beim „Spätschoppen“Platz nehmen und über Gott und die Welt diskutieren. Im Mittelpunkt stand die Linde auch, als ihr zu Füßen in den Jahren 1949 und 1989 neue Glocken geweiht wurden. Die Kommunionkinder ziehen auf dem Weg vom Pfarrhof zur Kirche auch
noch am Friedenssymbol vorbei.
Die Linde würde uns auch erzählen, wie über viele Jahre hinweg die Schulkinder unter ihrer Krone in der Pause Fangen oder Völkerball gespielt haben oder wie sich diese in der schulfreien Zeit beim Baum trafen, um zum Beispiel Räuber und Gendarm mit Ziel Lindenbaum zu spielen, aber auch um Liebesbotschaften in die Rinde zu schnitzen. Gut in Erinnerung ist dem Baum sicher auch noch die Zeit, als die beiden Nattenhauser Kramerläden Schliefer und Fetter am Patroziniumsfest unter dem Geäst ihren Feststand aufbauten.
Darüber hinaus war er – in einer Zeit als es weder Handy noch Whats App gab – immer wieder ein markanter Treffpunkt für Liebende oder für die Jugend Ausgangspunkt für Unternehmungen. Womit der Text des altbekannten Volksliedes von Franz Schubert bestätigt wird, in dem es heißt: „Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum. Ich träumt’ in seinem Schatten, so manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde, so manches liebe Wort. Es zog in Freud und Leide, zu ihm mich immer fort.“
Auch über bauliche Veränderungen könnte der Baum berichten. Etwa wie im Jahr 1905 eine neue Schule (heute Vereinsheim) gebaut oder wie das angrenzende Gasthaus Zum Ochsen im Jahr 1968 abgerissen und durch einen weniger stilvollen Neubau ersetzt wurde, in dem später die Diskothek Queens-Pub Treffpunkt der jungen Laute war, ehe das Gebäude zur Unterkunft von rund 40 Asylbewerbern „umfunktioniert“wurde.
Aber auch die unangenehmen Dinge würde die Linde nicht verschweigen. Etwa wie mancher Hund im Vorbeigehen an seinem Stamm das Bein gehoben hat oder manch Besucher des Gasthauses Ochsen bzw. der Diskothek sich aus „bestimmtem Grunde“auf dem Heimweg noch schnell „hinter den Baum“begeben hat.
Einer der von Geburt an Seite an Seite, nur getrennt durch die Ortsstraße, rund sechs Jahrzehnte mit dem Lindenbaum gelebt hat, ist Anheute ton Springer. Der 89-Jährige weiß einiges über das Friedenssymbol zu berichten. Etwa, als im Hof des benachbarten Bauernhauses eine Jauchegrube ausgehoben wurde und armdicke saftige Wurzeln der rund 30 Meter entfernten Linde zum Vorschein kamen. Oder dass im Sommer immer wieder mal landwirtschaftliche Gespanne mit voll beladenen Heuwagen unter dem Lindenbaum halt gemacht haben, um vom Wagen aus nach den begehrten Lindenblüten zu greifen, aus denen schweißtreibender Tee für den Fall einer Erkältung gebrüht wurde. Springer ist nicht bekannt, dass der Baum einmal ernsthaft um sein Leben kämpfen musste. Auch nicht als die Dorfstraße und die Zufahrt zur Kirche Mitte der 1960er Jahre geteert wurden, als 1988 die Kanalisation im Unterdorf in Angriff genommen wurde und das Wurzelwerk nicht ganz ungeschoren davon kam oder als im Zuge der Dorferneuerung (2002 bis 2004) die letzte größere unbefestigte Fläche zu Füßen des Baumes zugepflastert wurde. Bei letzterer Maßnahme hat man einen sogenannten „Baumdoktor“hinzugezogen und penibel darauf geachtet, dass das Wurzelwerk geschont wird. Und so schüttelte die Linde alle „Wehwehchen“erfolgreich ab, trotzte zudem allen Unwettern und stürmischen Zeiten. Lediglich reine Pflegemaßnahmen – wie zuletzt in den Jahren 2014 und 2018 – waren für ihre Gesundheit erforderlich.
Nachdem Linden bis zu 1000 Jahre alt werden, stehen die Chancen gut, dass sich die Nattenhauser noch lange an ihrem Wahrzeichen erfreuen können. Anton Springer spricht sicherlich allen Bürgern aus der Seele, wenn er dem Baum zum 150. Geburtstag noch viele, viele Jahresringe wünscht, denn – so der 89-Jährige – „ohne die Linde würde dem ganzen Ort echt etwas fehlen…“