Mittelschwaebische Nachrichten
Lernen vom Nachbarn
In der Schweiz sind die allermeisten Schulen seit Mai 2020 durchgehend geöffnet. Die Befürchtung, dass Kinder sonst Lernprobleme bekommen, ist größer als die Angst vor einer Infektion. Jetzt beweisen Mediziner: Kaum ein Klassenzimmer wurde zum Hotspot. Ei
Neuhausen An dieser Schule ist irgendwie alles normal. Die zweite Klasse der Grundschule im kleinen Schweizer Städtchen Neuhausen am Rheinfall ist gerade in Gruppen aufgeteilt, ein Teil hat Musikunterricht, der andere ist mit der Klassenlehrerin im Sitzkreis beschäftigt. Auf eine Frage antworten alle Schüler blitzschnell: Geht ihr lieber zur Schule oder lernt ihr lieber zu Hause? Die Kinder sind sich einig: Viel lieber in die Schule! Und dorthin dürfen sie auch, jeden Tag.
Der Unterricht findet statt in Neuhausen am Rheinfall. Für alle Klassen, so wie überall in der Schweiz. Nur im vergangenen Frühjahr, als das Virus noch neuartig war, hatten die Schweizer Schulen von Mitte März bis Mitte Mai landesweit acht Wochen lang geschlossen. Danach hat sich das Land gegen eine generelle Schulschließung entschieden – und ist damit erstaunlich gut gefahren.
Natürlich gibt es Schutzkonzepte. Viel strenger, viel ausgeklügelter als in Bayern sind sie aber nicht. Die Maskenpflicht gilt sogar erst ab der 5. Klasse, Abstand halten untereinander müssen Schüler nicht. Der größte Unterschied zum Freistaat, man muss es wohl so sagen: Die Schweizer haben es einfach probiert.
Bayern schlug den entgegengesetzten Weg ein – und riegelte seine Schulen zwischen Mitte Dezember und Mitte Februar genauso lange ab wie zu Beginn der Pandemie. Und während die Schweizer Kinder mit ihren Lehrern übten, sangen und Proben schrieben, entschied im Freistaat die Sieben-Tage-Inzidenz darüber, ob der Schulgong den Tag einläutete oder ins Leere hallte. 99 hieß zuletzt Wechselunterricht, 100 plus bedeutete Lernen auf Distanz. Eine tägliche Zitterpartie.
Jetzt haben sich Schüler, Lehrer und nicht zuletzt die Staatsregierung in die Osterferien gerettet. Ob danach ein sicherer Schulbesuch möglich ist? Diese Frage beschäftigt Eltern und Kinder dieses Jahr wohl mehr als das Rätsel, wo der Osterhase die Eier versteckt.
Die Schweiz hatte Ende des vergangenen Jahres so hohe Corona-Infektionszahlen wie kaum ein anderes Land in Europa. Sie zählte bei 8,7 Millionen Einwohnern bis zum vergangenen Samstag 592217 Infektionen insgesamt, in Deutschland waren es 2755 225. Rechnet man das auf die Gesamtbevölkerung hoch, schneidet die Schweiz also deutlich schlechter ab als die Bundesrepublik. Zuletzt ebbte die Welle bei den Eidgenossen ab. Seit ein paar Tagen darf man sich drinnen wieder mit zehn Personen treffen, draußen mit 15, Restaurants sind zu, Geschäfte offen. In Deutschland bäumt sich die dritte Welle auf – und so kommen die Werte sich näher. In der Schweiz lag der Sieben-TageDurchschnitt der Neuinfektionen am vergangenen Samstag bei 134, hierzulande bei 124. Kein großer Unterschied – trotz offener Schulen im Alpenstaat.
Neuhausen im Kanton Schaffhausen kennt man in Deutschland am ehesten deswegen, weil der Rhein dort so spektakulär einen Fels hinunterstürzt. Das Schlössli Wörth, eine Burg aus dem 12. Jahrhundert, liegt wie auf einer Postkarte idyllisch am Fluss. Jetzt ist die Stadt aus einem anderen Grund einen Besuch wert. Sie steht beispielhaft für die Corona-Strategie des Landes. Die Gesamtschule, architektonisch unmit ihren Flachdächern und der leicht angegrauten Außenvertäfelung, schluckt täglich 1000 Schüler. Daneben hat die Stadt elf Kindergärten. Nichts davon war seit Mai 2020 geschlossen.
Von 150 Lehrern an der Gesamtschule Neuhausen hatten seit November 14 Covid-19, von den Schülern waren 30 betroffen. Dennoch war bislang keine einzige ganze Klasse in Quarantäne. Michael Ruh ist Schulleiter des Realschulzweigs. Ein sportlicher Typ, hellbraunes Haar, offenes Lächeln. Die Pandemie gehört für ihn zum Alltag, für wen auch nicht. Ruh macht keinen Hehl daraus, dass es viele positive Fälle an seiner Schule gegeben hat. „Aber nie hat sich eine Klasse zu einem Hotspot entwickelt“, betont er.
Wenn sich ein Schüler infiziert, laufen standardisierte Prozesse ab. Es muss nicht die gesamte Klasse in Quarantäne, der Unterricht geht weiter. Gibt es zwei positive Fälle pro Klasse, dann werden alle Mitschüler getestet. Sind es mutierte Viren, ist es möglich, die ganze Schule zu testen. Zwei Mal hat es bislang Massentests gegeben, alle waren negativ, so der Schulleiter. Auf routinemäßige Schnelltests verzichten sie im Kanton Schaffhausen. Anderswo in der Schweiz werden die Testungen auf freiwilliger Basis im Schulhaus angeboten.
Wer einen Blick in die Klassenzimmer wirft, blickt nicht selten in unverhüllte Gesichter. Die Erst- bis Viertklässler tragen keine Maske, sie sitzen ohne Abstand nebeneinander. Eine Grundschulklasse hantiert mit dem Klebestift, die Kinder bauen Papierfiguren, unterhalten sich lachend. Nur die Lehrkraft braucht einen Mund-Nasen-Schutz.
In Bayern musste vor den Ferien jeder Lehrer im Schulhaus eine sogenannte OP-Maske tragen, Schüler durften Mund und Nase mit normalen Stoffmasken bedecken, auch am Platz. Freiwillige Selbsttests sollte es eigentlich an allen Schulen geben. Doch noch immer sind sie nicht überall angekommen. Dabei ruht auf den Tests die ganze Hoffnung, nach den Ferien an möglichst vielen Schulen zumindest Wechselunterricht anbieten zu können.
Bislang sind die Tests noch freiwillig. Ab 12. April gilt in Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100: Unterricht nur mit negativem Test. Ein Streit tobt darüber, ob Schüler sich das Stäbchen unter Aufsicht der Lehrer in die Nase schieben sollen oder zu Hause. Lehrer und Elternvertreter fürchten ein hygienisches Chaos und noch mehr: dass Schüler darunter leiden würden, wenn sich ihr Test vor der ganzen Klasse als positiv herausstellt.
Ein Blick über die Grenze lohnt auch bei diesem Thema. Nicht in die Schweiz, sondern nach Österreich. Dort stehen Pflichttests an Schulen längst genauso auf dem Stundenplan wie das Tafelputzen. Seit Mitte Februar testen sich österreichische Schüler mehrmals pro Woche mit Nasenabstrichen. „Diese Tests sind an den Schulen zur Routine geworauffällig den“, sagt der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Heinz Faßmann. „Eltern und Lehrkräfte unterstützten die Testungen von Anbeginn, was zur hohen Akzeptanz von nahezu 99 Prozent geführt hat.“
Dennoch: Die Sieben-Tage-Inzidenz betrug in Österreich am Samstag 246 Fälle auf 100000 Einwohner. Infektionen nehmen vor allem in den jüngeren Alterskohorten zu, gerade bei Schülern: Im Burgenland betrug der Wochendurchschnitt bei den Fünf- bis 14-Jährigen jüngst über 500, in Niederösterreich, Wien und Salzburg sieht es kaum besser aus. Doch nicht die Tests seien sinnlos, sondern die Aggressivität der britischen Virusvariante sei schuld, sagte der Virologe Norbert Nowotny von der VetMed-Uni Wien kürzlich unserer Redaktion. Sie sei nicht nur ansteckender, sondern treffe auch Jüngere stärker. Er ist sich sicher: Ohne engmaschige Tests hätte man die Schulen im Februar erst gar nicht aufsperren können.
Für Bayern ist Österreich ein Vorbild. „Die Bayerische Staatsregierung steht im engen Austausch mit Österreich, das die Selbsttests an den Schulen seit mehr als einem Monat erfolgreich durchführt“, bestätigt ein Sprecher des Kultusministeriums. Von einem Austausch mit der Schweiz ist nicht die Rede.
Dass sich das Virus an geöffneten Schulen unkontrolliert ausbreitet, hat sich zumindest dort nicht bewahrheitet. Die Universität Zürich prüfte im gleichnamigen Kanton bei 2500 Schulkindern zwischen sechs und 16 Jahren, ob sie schon eine Infektion hinter sich haben. Knapp acht Prozent trugen Ende Oktober Covid-19-Spuren in sich. Das Virus macht also vor den Schulen nicht Halt. Doch nur selten steckten die infizierten Kinder Mitschüler an. „Keine ganzen Schulen und nur sehr wenige Klassen zeigten eine Häufung von Corona-Infektionen“, stellten die Züricher Forscher und der Epidemiologe Milo Puhan fest. Puhan ist Teil einer Taskforce aus Wissenschaftlern, die die Regierung bei den Corona-Maßnahmen berät. Sie empfiehlt Schulschließungen „nur im äußersten Notfall bei hohen Ansteckungsraten“. Wegen des Grundrechts auf Bildung – und wegen der sozialen Folgen.
Ruth Marxner weiß, was die Forscher damit meinen. Sie leitet die Dienststelle Primar- und Sekundarstufe I im Kanton Schaffhausen.
Die Schweiz hatte mit die höchsten Infektionszahlen
Die Deutschen versteht hier so mancher nicht
Beim Lockdown vor einem Jahr hat sie selbst erlebt, wie unterschiedlich stark das Lernen daheim gerade jüngere Schüler trifft. „Die Erfahrungen im Frühjahr haben gezeigt, dass ein Risiko besteht, lernschwächere Schüler und solche aus bildungsfernen Familien im Fernunterricht zu verlieren“, sagt sie. Das wollte man nicht noch einmal riskieren. Die Befürchtung, dass Schüler den Anschluss verlieren könnten, überwog schließlich das Infektionsrisiko. Dass in Deutschland die Schulen so lange so rigoros geschlossen waren – und in Regionen mit hohen CoronaZahlen auch nach den Ferien wieder sein werden – verstehen hier viele nicht.
Rektor Michael Ruh in Neuhausen ist froh, dass seine Schüler durchgehend in den Unterricht kommen konnten: der soziale Umgang, die Kontakte in die Berufswelt, die es vor dem Abschluss zu knüpfen gilt. Ruh ist sich sicher: „All das spielt eine Rolle für die Entwicklung der Schüler.“
Bayerns Politiker wissen das auch. Anders entschieden haben sie trotzdem.