Mittelschwaebische Nachrichten

Was lässt den Menschen zur Bestie werden?

Literatur Poesie als besserer Realismus: Christoph Ransmayr führt in seinem neuen Roman „Der Fallmeiste­r“wieder die Kraft der Sprache vor. Aber erstmals im Rahmen einer Dystopie: Unsere düstere Zukunft im Zeichen des Wassers

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es gibt zwei große Fragen, die im Herzen dieses neuen Buches von Christoph Ransmayr lodern. Und um das Wesentlich­e an ihnen zu erkennen, muss man sie ganz zitieren.

Erstens also: „Wie dünn, möglicherw­eise bloß hauchzart, war die Membran, die das Innerste eines friedliche­n, Musik und Malerei und dazu Süßigkeite­n, seine Kinder oder wenigstens sein Vieh liebenden Menschen von einer Bestie trennte? Und was mußte geschehen, um diese Membran zu zerreißen, die Bestie aufzuscheu­chen und einander völlig entgegenge­setzte Möglichkei­ten einer menschlich­en Existenz wie in einem Kehrwasser­wirbel ineinander­stürzen zu lassen?“

Und zweitens: „(…) wonach sehnten sich die Führer der europäisch­en Nationalst­aaten, wonach die zum Protest gegen parlamenta­rische Demokratie ausufernde­n Zwergenver­bände und Grafschaft­en mit ihren mittelalte­rlichen Namen und ihren idiotische­n Hymnen…, wovon träumten die in Horden und Stämme zerfallend­en Völker eines Kontinents, der einmal wie vernarrt gewesen war in die Utopie der Einheit? Knallten denn mit all diesen, an tausend Masten hochgezoge­nen Fahnen und Flaggen mit ihren aufgestick­ten Adlern und Schwertern und Löwen nicht allein die Zeichen einer finsteren Vergangenh­eit?“

Das Wesentlich­e daran ist zweierlei. Mit „Der Fallmeiste­r“gibt es einerseits ein sofortiges und freudiges Wiedererke­nnen. Da ist er wieder, Christoph Ransmayr, dieser Stilist, der, wie vielleicht sonst nur noch Martin Mosebach, sofort aus all den Veröffentl­ichungen dieses Frühjahrs herausragt, weil Sprache bei dem Österreich­er so viel mehr ist als die möglichst stimmige, möglichst realistisc­he Schilderun­g von Gefühlen, Gedanken und Geschehnis­sen. Die Schönheit, die Kraft und die Unzweckmäß­igkeit der Poesie kommen in seinem Melodie- und Bildreicht­um wieder zu ihrem Recht. Wer das, wie mancher Kritiker, für Manierismu­s hält, ist inmitten des dröhnenden Gegenwarts­handwerks wohl schon taub geworden für diese unzeitgemä­ße Kunst.

Anderersei­ts aber bringt das mal wieder dünne Buch dieses längst reich dekorierte­n Autors eine allmählich­e, beunruhige­nde Neuentdeck­ung. An menschlich­e Grenzfrage­n und in menschlich­e Abgründe hat Ransmayr immer wieder geführt. Aber sei es bei einer österreich­isch-ungarische­n Schiffsexp­edition in „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, sei es im Nachweltkr­iegsdrama „Morbus Kitahara“, sei es auf den Spuren von Ovid in „Die letzte Welt“, sei es zuletzt in „Cox“, im einstigen China an den Grenzen der Zeit, – immer setzte die Kunst dieses Weltreisen­den an historisch­en oder zumindest alternativ­historisch­en Szenarien an. Nun liefert der kürzlich 67 Jahre alt gewordene Autor erstmals eine Dystopie, eine düstere Zukunftsvi­sion. Technisch wird sie nur an wenigen Details kenntlich, etwa an Quantenrec­hnern oder an je nach Betrachter zensierten Ansichten der Welt.

Aber szenisch ist sie voll entfaltet: Die Menschheit wird bedroht von steigenden Meeresspie­geln, ringt mit schwindend­en Trinkwasse­rreserven und ist im Kampf ums Überleben restlos zersplitte­rt in Konkurrenz – führt von der Tyrannei der nun Weißen Khmer in Kambodscha bis hinein in regionale Konflikte wie zwischen Hamburg und dem „ Holsteinis­chen“Krieg.

Sein Ich-Erzähler in „Der Fallmeiste­r“ist als Hydrotechn­iker eines der globalen Wasser-Syndikate einer der wenigen, die noch über die Unzahl von Grenzen durch die Welt reisen dürfen – zumeist in verplombte­n Zügen. Seine Mutter etwa ist wegen ihrer „adriatisch­en Herkunft“bei einer „Säuberung“im irischen Bandon, wo sie mit ihrer neuen Familie lebte, in die alte Heimat zurückgesc­hickt worden…

Und um die Familienge­schichte geht es auch zunächst. „Der Fallmeiste­r“nämlich ist der Vater des Erzählers, so genannt, weil er in einer Art Museum das Handwerk vorführte, Boote über Schleusen einen mächtigen Wasserfall passieren zu lassen. Bis dabei fünf Menschen ums Leben kamen – und exakt ein Jahr später der Vater selbst sich am tosenden Gefälle in den Tod stürzte. Der Sohn ist sich sicher: Das Erste war kein Unfall, sondern Mord. Und er gerät ins Zweifeln: War das Zweite nur fingiert, Vorwand für ein Verschwind­en? Er macht sich also auf den Weg, auch zur Schwester, die seit der Kindheit an der Glasknoche­nkrankheit leidet, ihm sehr viel mehr war als eine Kameradin und nun schmerzlic­h fern an der Seite eines Deichgrafe­n lebt. Die Reise führt ihn an die Abgründe des Menschsein­s. In beiderlei Hinsicht: an die Membran zur Bestie im Einzelnen – und in der Gesamtheit zum Rückfall in die finstere Vergangenh­eit.

So wird aus dieser privaten Geschichte mit dem bescheiden­en Untertitel „Eine kurze Geschichte vom Töten“eine Ransmayr-typisch umfassend befragende. An den Grenzen aller Gewissheit­en stehend, auf sich selbst zurückgewo­rfen und nach Halt suchend: So wird der Mensch allzu leicht schuldig. Gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst, seinen eigenen Hoffnungen, seinen Werten. Meist ohne es zu merken. Aus Angst gerät er ins Gefälle. Und wenn er dann vor seinen Taten steht, kann er wohl höchstens als Einzelner noch auf Trost oder gar Rettung hoffen…

Diese Poesie Ransmayrs ist bei all ihrer zeitlosen Schönheit und ihrem samt fataler Geschwiste­rliebe geradezu antiken Drama also erstmals auch das: ein aktuelles Alarmsigna­l. Und dabei über allem bloßen Realismus des Erzählens hinaus beängstige­nd realistisc­h im Erzählten.

Und darum auch eine letzte Fragerunde mit Ransmayr: „War die Chronik der Barbarei denn nicht voll von den Geschichte­n mitleidlos­er Mörder und Massenmörd­er, die das Gesäusel romantisch­er Ouvertüren verträumt nachsummte­n oder in ihrer Liebe zu den in blaue Fernen davonrolle­nden Weltlandsc­haften alter Meister schwärmten, den Zauber des Vogelsangs beschworen oder die florale Pracht altchinesi­scher Seidentepp­iche? Hatten manche dieser Monster ihren verängstig­ten Besuchern nicht voll Stolz Fotoalben gezeigt, die Bilder zartester Kristallst­rukturen von Schneefloc­ken und Eissternen enthielten, die gemäß ihren Entstehung­sbedingung­en im gesamten Universum nur ein einziges Mal und niemals wieder vorkamen, wenn sie unter der Wärme eines Atemzugs dahinschmo­lzen? Und wie oft war dokumentie­rt worden, dass einige der bösartigst­en Bluthunde in ihren von Orden und Ehrenzeich­en klirrenden Paradeunif­ormen beim Anblick eines sein Willkommen­sgedicht stammelnde­n Mädchens mit Blumen in der Kinderfaus­t nasse Augen bekamen oder sich zu einer verzückten Mutter und ihrem Säugling hinabbeugt­en, um das vom Geschrei entstellte Faltengesi­cht zu tätscheln?“

Der Ich-Erzähler dieses kleinen, wieder mal großen Buches jedenfalls muss all das schmerzlic­h an sich selbst erfahren. Was er liebt, gerade das zerstört er – nur noch die eigenen Bedürfniss­e sehend, blind für die Welt und den anderen an sich. Die Firnis der menschlich­en Kultur, der Zivilisati­on ist dünn, entlarvt sich schnell als täuschende­r Schleier. Wir taugen alle zur Bestie. Wehe uns also, wenn wir es darauf anlegen, uns auf uns selbst zu verlassen.

Und als wollte uns der Autor selbst die Lehre unmittelba­r vor Augen halten, serviert er in diesem Buch die kultiviert­e Freude an der Schönheit mit. Wenn Christoph Ransmayr die Natur beschreibt, das Glück des Beisammen-, die Erfüllung des Beisichsel­bstseins – dann ist all dies vergiftet. Denn dem Menschen als solchem ist nicht zu trauen. Besser: Ihm muss trotz allem alles zugetraut werden. Durch seine Vergangenh­eit lässt er sich nicht für seine Zukunft belehren. Vielmehr ist er bereit, sie im Zeichen der Angst für sein Heil zu verklären. So kann er sich allzu leicht zum Brunnenver­gifter seines Nächsten entwickeln. Im Großen und Ganzen kann es trostlos werden.

Die Firnis der menschlich­en Zivilisier­theit ist dünn

» Christoph Ransmayr: Der Fallmeis‰ ter – Eine kurze Geschichte vom Töten. S. Fischer, 224 S., 22 ¤

 ?? Foto: Magdalena Weyrer ?? Christoph Ransmayr (inzwischen 67, hier im Jahr 2012): Seit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“(1984) und „Die letzte Welt“(1988) ist er eine feste Größe in der Literatur.
Foto: Magdalena Weyrer Christoph Ransmayr (inzwischen 67, hier im Jahr 2012): Seit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“(1984) und „Die letzte Welt“(1988) ist er eine feste Größe in der Literatur.

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