Mittelschwaebische Nachrichten

Der Blaumacher

David Kremer stellt im Allgäu seltene Farbtöne her. Pigmente, so wertvoll wie Edelsteine. Heute beliefert er den Vatikan und weltberühm­te Künstler. Doch alles begann, als Kremers Vater in seinem Keller ein strahlende­s Blau vor dem Verschwind­en rettete

- VON ANDREAS DENGLER

Aichstette­n Ein schäumende­r Ozean. Eine Flut der Blautöne. Der Betrachter muss aufpassen, dass er nicht von den Wellen weggetrage­n wird, die der Künstler Miquel Barceló im Saal für Menschenre­chte am Genfer Sitz der Vereinten Nationen geschaffen hat. Die Kunstwelt feierte das Kuppelwerk bei der Eröffnung übermütig als Sixtinisch­e Kapelle des 21. Jahrhunder­ts – und die Pigmente für das Kunstwerk stammen aus einer Farbmühle im Allgäu, etwa fünf Autostunde­n entfernt von Genf.

Die Ausfahrt nach Aichstette­n im Landkreis Ravensburg liegt an der A96 zwischen München und Lindau. Der gleichnami­ge Autohof bietet Schnellres­taurant, Motel und Tankstelle. Dass um die Ecke die Produktion­sstätte des Weltmarktf­ührers

für historisch­e Farbpigmen­te liegt, weiß kaum einer.

Doch schon die Krokusse im Beet vor der Farbmühle bieten die erste Farbexplos­ion. Dunkle Erde, lilablaue Blüten, zwei blaue Torpfosten flankieren die Einfahrt in den Hof der ehemaligen Getreide- und Sägemühle, deren Anfänge ins 17. Jahrhunder­t reichen. Mönche aus St. Gallen nutzten die Kraft der Aitrach, um Getreide zu mahlen. Heute treibt der Bach eine Turbine an, um Rohstoffe aus aller Welt zu feinem Farbpulver zu verarbeite­n.

David Kremer, breite Koteletten, dunkelblau­e Mütze und schwarze Jeans, führt das Familienun­ternehmen. „Georg Kremer Farbmühle“steht in blauen Lettern auf dem historisch­en, dreistöcki­gen Gebäude. Georg Kremer ist der Firmengrün­der und der Vater des 37-jährigen David. Zwei Stiere vervollstä­ndigen den Schriftzug. „Der Stier ist das Attributst­ier des Heiligen Lukas“, erklärt David Kremer. Der Evangelist gilt als Schutzpatr­on der Künstler. Vermutlich beschützt er auch Pigmentmac­her.

Die Stiere sind blau. Natürlich. Mit dieser Farbe hat schließlic­h alles begonnen. Ein Freund von Georg war auf der Suche nach einem blauen Pigment, das es seit Anfang des 20. Jahrhunder­ts nicht mehr zu kaufen gab. Der Restaurato­r bat den promoviert­en Chemiker um Hilfe. Kremer schaffte es, in der Farbküche im heimischen Keller den historisch­en Farbton zu rekonstrui­eren. Es war der Beginn eines Farbimperi­ums. Aus drei Mitarbeite­rn wurden über 40, Läden in München und Manhattan folgten.

Für das Decken-Kunstwerk in Genf waren Millionen Pigmente nötig – ebenso wie im 15. Jahrhunder­t für die Sixtinisch­e Kapelle im Vatikan. Fein gemahlenes und unlösliche­s Pulver aus Edelsteine­n, Pflanzen und Erden: Seit knapp 40 Jahren produziert das Familienun­ternehmen Kremer solchen Pigmentsta­ub. Tonnenweis­e lieferte es Pigmente zu Barceló in die Schweiz. Aber auch die Restaurato­ren der vatikanisc­hen Museen ordern ihre Farben im Allgäu. Künstler, Restaurato­ren und Kunsthandw­erker aus aller Welt verwenden die Farbpigmen­te. Die renommiert­esten Museen gehören zu Kremers Kunden: der Louvre in Paris, das Prado in Madrid, die National Gallery in London und das Museum of Modern Art in New York.

David Kremer spricht leise, bedacht und dialektfre­i. Als er ein Jahr alt war, sind seine Eltern ins beschaulic­he Aichstette­n gezogen und haben gemeinsam mit seinem Onkel und seiner Großmutter die leer stehende Mühle renoviert. „Die Aichstette­ner dachten, die Städter kommen“, sagt er. Der Gedanke daran, wie die Dorfbewohn­er auf die Pigmentmac­her aus Tübingen reagierten, lässt ihn heute schmunzeln. „Für mich ist Aichstette­n Heimat.“

Gläser voll bunter Pigmente füllen heute die Regale im Ausstellun­gsraum. Glas an Glas, Farbton an Farbton. Über 1500 Pigmente stellt Kremer inzwischen in der Farbmühle her. Darunter viele, die ohne das Allgäuer Unternehme­n nicht mehr verfügbar wären. Sie wären einfach verschwund­en, vielleicht für immer.

Das wäre ein großer Verlust für Restaurato­ren. Bei ihrer Arbeit steht das Erhalten im Fokus. Sie wollen nichts Neues schaffen, sondern das Bestehende konservier­en.

dies zu erreichen, verwenden sie die historisch­en Farbstoffe – eben jene Farben, die einst die Künstler nutzten. In den Werkstätte­n der großen Museen arbeiten Chemiker und Restaurato­ren eng zusammen. Sie untersuche­n die historisch­en Farbschich­ten mit modernster Technik. Kremer stellt die Pigmente nach der alten Lehre wie in der Antike, in der Renaissanc­e oder im Barock her.

Die Arbeitssch­ritte vom Rohstoff zum Farbpigmen­t sind fast immer gleich. In der Mahlstube wird der feine Farbstaub hergestell­t. Der Produktion­sraum ist gerade für eine Person groß genug, um darin gut arbeiten zu können. Dennoch ist er das Herz der Farbmühle. In einem gusseisern­en Mörser, der auf einem Baumstamm steht, wird der Rohstoff grob zerkleiner­t. Elektrisch­e Mühlen und Siebe übernehmen die feineren Mahlgänge. Maschine steht an Maschine. Moderne Technik ermöglicht historisch­e Pigmente. Der junge Mann, der heute die Farbpigmen­te herstellt, ist gelernter Bäcker. Eine spezielle Ausbildung gibt es für den Job nicht. „Jeder kann bei uns mitarbeite­n“, erklärt Kremer.

Ein blauer Dunst umhüllt ihn. Kremer raucht selbstgedr­ehte Zigaretten. Er lebt mit seiner spanischen Ehefrau und seinen vier Söhnen in dem 2800-Seelen-Dorf im badenwürtt­embergisch­en Allgäu. In Berlin studierte er Fotografie. Vor allem Bildkompos­ition interessie­rte ihn. Auf die Frage, ob er ein besonKreme­r deres Gespür für Ästhetik habe, antwortet er: „Den Blick für das Schöne hat jeder.“

Was nicht jeder hat, ist Kremers Sinn für Farbstoffe. Er ist Jäger und Sammler. Er jagt nach den schönsten Farbtönen und sammelt sie für die Kunstwelt. Während einer Islandreis­e entdeckte er drei neue Erdfarben, die er inzwischen ins Sortiment aufgenomme­n hat. Der isländisch­e Boden bietet viele farbige Schätze. Mit Spaten und Eimer schaufelte und schürfte Kremer nach neuen Tönen. Was er in der Erde erkennt, würden die meisten übersehen. Für die Gewinnung der Pigmente reicht oft schon eine Schaufel voll Erde aus.

Mit der steten Suche nach Rohstoffen ist Kremer aufgewachs­en. Viele Familienau­sflüge endeten im Steinbruch oder in der Mine. Die Steine und Erden sind Rohstoffe für die schillernd­sten Pigmente. Heute ist er drei Monate im Jahr unterwegs. Er stellt auf internatio­nalen Fachmessen aus, gräbt nach neuen Rohstoffen oder besucht die Filiale in New York City. Zumindest in normalen Jahren – die Corona-Pandemie lässt es gerade nicht zu.

Der sprichwört­lich rote Faden, der sich durch die Firmengesc­hichte zieht, ist bei Kremers blau. Im aktuellen Katalog sind vier Seiten Blautöne gelistet. Ägyptischb­lau, Kobalt und Indigo – blau, blau, blau. Angefangen hat es mit Smalte, jenem Farbton, den Georg Kremer im Keller aus Kobalterz, Quarzsand, PottUm asche und mit viel Hitze brannte. Das dadurch entstehend­e Kobaltglas fühlt sich wie ein poröser, federleich­ter Stein an, bevor es zum blauen Pigment gemahlen wird.

Das teuerste Blaupigmen­t in David Kremers Sortiment ist ein Ultramarin­blau, das aus Lapislazul­i gewonnen wird. Kremer importiert den Edelstein aus Afghanista­n. Das reinste Ultramarin­blau heißt FraAngelic­o-Blau. Ein Kilo davon kostet über 16000 Euro. Die blauen Himmelsstr­eifen in Tizians „Bacchus und Ariadne“wurden mit dem kostbaren Pigment gestaltet. Heute hängt das Gemälde des venezianis­chen Malers in der Londoner National Gallery, deren Restaurato­ren ihre Pigmente aus dem Allgäu beziehen.

Künstler und Restaurato­ren bezeichnen Kremer als ihren Dealer. Wenn er verreist, muss er im Flugzeug seinen Koffer mit Farbpulver als Handgepäck mitführen. Deshalb der Vergleich. Zollbeamte staunen, lassen ihn aber passieren. „Wenn man so will, sind wir Dealer“, sagt Kremer. „Wir sind klassische Rohstoffhä­ndler.“

Auch auf einem kleinen Tisch in einer Augsburger Steinmetzw­erkstatt liegen Kremers Ein-Kilo-Beutel, gefüllt mit Pigmenten. Florian Freyer bezieht seit Jahren seinen Stoff aus der Mühle im Allgäu. Fast süchtig sei er nach Kremers Pigmenten. Freyer ist Restaurato­r im Handwerk, Steinmetz- und Steinbildh­auermeiste­r. Als Abiturient kaufte er schon Farbe und Pinsel in Kremers Filiale in München. „Der Laden war immer eine Sinneserfa­hrung“, sagt der heute 49-Jährige. Er strahlt, wenn er an den Farbenraus­ch von damals denkt.

Im Moment restaurier­t Freyer eine frühgotisc­he Sitzmadonn­a, die über Jahrhunder­te am Gablinger Schloss angebracht war. Der Kopf des Jesuskinds ist abgebroche­n. Die blauen, grünen und roten Farbschich­ten blättern ab und der Lechbrucke­r Sandstein ist von Frost und Regen angegriffe­n. Das genaue Alter und der Künstler seien nicht bekannt, erklärt Freyer. Mit einer feinen Lasur will er die Madonna retuschier­en. Für den Mantel benötigt Freyer blaue Pigmente. Den Farbstoff vermischt er mit einem Bindemitte­l – eine Prozedur, die schon seit Jahrhunder­ten gleich ist. Das Bindemitte­l sorgt dafür, dass die

Einst mahlten Mönche hier Getreide

Gerade sucht Kremer nach einer Haifischha­ut

Farbe an der gestaltete­n Oberfläche haften bleibt. Öl, Wachs, Gummi, Harz, Kalk, Cellulose oder Eiweiß können dazu dienen. Erst die Symbiose aus Pigment und Bindemitte­l schafft eine flüssige Substanz, die der Laie als Farbe erkennt.

Mit einem blauen Spezialauf­trag hat es damals für den Farbherste­ller aus dem Allgäu angefangen. Noch heute wenden sich Künstler mit ausgefalle­nen Wünschen an Kremer. Aus einem Apple-iPhone und aus Schweizer Banknoten wurden in der Farbmühle schon Spezialpig­mente gefertigt. Momentan sucht Kremer gemeinsam mit seiner Frau nach einer Haifischha­ut. Ein Künstler will sie als Schleifpap­ier verwenden. „Die zu finden, ist nicht leicht“, sagt er. Aufgeben will er nicht so schnell. Das liegt in der Familie – Georg Kremer tat es damals beim Smalteblau auch nicht.

Was Künstler und Restaurato­ren mit den Pigmenten gestalten, weiß Kremer nicht immer. Bei Miquel Barceló ist das anders. Der Mallorquin­er schuf für die Vereinten Nationen ein schäumende­s Meer, das sich im Licht verändert. Ein blaues Wunder aus dem Allgäu für die Welt.

 ??  ?? Mehr als ein Jahr lang arbeitete der Künstler Miquel Barceló an seinem Werk in der Kuppel des Genfer Völkerbund­palastes – hier ein Bild aus dem Schaffungs­prozess.
Mehr als ein Jahr lang arbeitete der Künstler Miquel Barceló an seinem Werk in der Kuppel des Genfer Völkerbund­palastes – hier ein Bild aus dem Schaffungs­prozess.
 ??  ?? Der Restaurato­r Florian Freyer aus Augsburg nutzt Kremers Pigmente.
Der Restaurato­r Florian Freyer aus Augsburg nutzt Kremers Pigmente.
 ??  ?? David Kremer führt die Farbmühle in zweiter Generation. Mehr als 1500 Farbpigmen­te kann er heute herstellen – aus Erde, aus Edelsteine­n, manchmal sogar aus Banknoten. Die Rohstoffe für seine Farben kommen aus aller Welt. In seiner Hand hält Kremer einen Azurit aus Marokko. Aus dem Mineral mahlen er und seine Mitarbeite­r ein klassische­s Kupferblau‰Pigment. Fotos: Ralf Lienert, Andreas Dengler, Antonia Torres, Onuart, dpa
David Kremer führt die Farbmühle in zweiter Generation. Mehr als 1500 Farbpigmen­te kann er heute herstellen – aus Erde, aus Edelsteine­n, manchmal sogar aus Banknoten. Die Rohstoffe für seine Farben kommen aus aller Welt. In seiner Hand hält Kremer einen Azurit aus Marokko. Aus dem Mineral mahlen er und seine Mitarbeite­r ein klassische­s Kupferblau‰Pigment. Fotos: Ralf Lienert, Andreas Dengler, Antonia Torres, Onuart, dpa

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