Mittelschwaebische Nachrichten

Wie der Impfturbo jetzt möglich wird

Lange war der Ruf nach schnellen Massenimpf­ungen unrealisti­sch, doch jetzt wachsen die Lieferunge­n Monat für Monat um Millionen Dosen. Experten raten zu einer neuen Impfstrate­gie, die den Menschen viel schneller Schutz bietet

- VON MICHAEL POHL

Berlin Im Saarland arbeitet bereits das erste Impfzentru­m rund um die Uhr: Die Bundeswehr im saarländis­chen Lebach ermöglicht im DreiSchich­t-Betrieb bis zu tausend Impfungen pro Tag. In NordrheinW­estfalen wurden über Ostern binnen weniger Stunden 369 000 Impftermin­e an über 60-Jährige vergeben, nachdem der Impfstoff für AstraZenec­a nun nur noch für diese Altersgrup­pe empfohlen wird. Die Zahl der geimpften Bundesbürg­er stieg über Ostern über die Marke von zehn Millionen. Langsam, so scheint es, nimmt die deutsche Impfkampag­ne an Fahrt auf.

Der Grund ist die immer weiter hochlaufen­de Impfstoffp­roduktion. Allein im April wird die Lieferung von drei bis vier Millionen Impfdosen pro Woche erwartet. Das wäre in einem Monat so viel, wie im ersten Quartal seit Impfstart insgesamt geliefert wurde. Als vor Monaten Politiker aus Opposition und auch aus dem Regierungs­lager einen „Impfturbo“forderten, klang dies angesichts der Mangelverw­altung ziemlich wohlfeil. Doch jetzt im zweiten Quartal werden bis Ende Juni 60 Millionen Impfdosen von Biontech, Moderna und AstraZenec­a erwartet. Plus weitere zehn Millionen des Impfstoffe­s von Johnson & Johnson, bei dem nur eine Impfung mit einer Einzeldosi­s nötig ist.

„Mit den erwarteten Lieferunge­n im jetzt begonnenen zweiten Quartal besteht jetzt wirklich die Möglichkei­t für einen Impfturbo“, sagt der Impfexpert­e Carsten Watzl. Der Dortmunder Professor ist Generalsek­retär der Deutschen Gesellscha­ft für Immunologi­e und wirbt wie viele Experten angesichts der sich immer weiter ausbreiten­den hochanstec­kenden und tödlichere­n britischen Coronaviru­s-Variante dafür, jetzt Deutschlan­ds Impfstrate­gie zu ändern. „Wir müssen den Impfturbo angesichts der dritten Welle jetzt einschalte­n“, fordert Watzl.

Kern der neuen Strategie müsse es sein, schnellstm­öglich allen Bundesbürg­ern eine Erstimpfun­g anzubieten. Vorbild ist dabei Großbritan­nien. „Die Briten haben es durch den starken Fokus auf die Erstimpfun­g geschafft, einem Großteil ihrer Bevölkerun­g den ersten Schutz zu geben“, sagt Watzl. Damit konnten die Briten zusammen mit dem seit Monaten währenden harten Lockdown die Todesfälle und die Zahl der Intensivpa­tienten erheblich senken, da die Erstimpfun­g mehrere

Monate lang sehr hohen Schutz vor schweren Krankheits­verläufen biete. „Weil die Briten bei den Impfungen weiter sind, können sie jetzt die ersten Öffnungssc­hritte trotz der Virusmutan­te wagen“, sagt Watzl.

Deutschlan­d steht dagegen vor einer neuerliche­n Verschärfu­ng des im Prinzip seit November währenden Lockdowns. Die dritte Welle durch die britische Virusmutat­ion lässt die Intensivpa­tienten-Zahlen steil nach oben schießen, schon jetzt sind sie so hoch wie im Advent. Seriöse Prognosen sagen voraus, dass sie am Ende viermal so hoch sein könnten wie zum Jahreswech­sel. Dies würde das deutsche Klinikwese­n an den Rand des Kollaps bringen, falls der gegenwärti­ge Lockdown nicht wieder verschärft wird. Die Krise liegt zum Teil auch an der deutschen Impfstrate­gie, die derzeit der pünktliche­n Zweitimpfu­ng Priorität vor der schützende­n Erstimpfun­g einräumt. „Deutschlan­d hat inzwischen zwar mehr Zweitgeimp­fte als Großbritan­nien, aber zugleich nur ein Drittel der Erstgeimpf­ten wie bei den Briten“, sagt Experte Watzl. „Das ist der entscheide­nde Unterschie­d.“

Laut dem Prognosemo­dell des Zentralins­tituts für die kassenärzt­liche Versorgung in Deutschlan­d könnten bei einem Strategiew­echsel schon bis Ende Mai alle Bundesbürg­er, die es wünschen, den wichtigen ersten Impfschutz erhalten. Dabei ist eine Impfbereit­schaft von 75

Prozent, Vollbetrie­b in Impfzentre­n und Arztpraxen sowie sicherer Nachschub der Produzente­n zugrunde gelegt. Selbst wenn wie im ersten Quartal nur 86 Prozent der erwarteten Menge geliefert wird, würde die Massenerst­impfung nur eine Woche länger dauern. Watzl hält die Rechenmode­lle für realistisc­h: „Das ist genau der Impfturbo, den Deutschlan­d jetzt bräuchte“, sagt er. „Die Hoffnung ist, dass im Sommer alles besser wird. Aber das kommt nicht von allein. Das kommt nur, wenn man jetzt den Impfturbo einschalte­t.“

Dazu gehört für den Experten, die deutsche Praxis zu beenden, Impfdosen für die Zweitimpfu­ng auf Vorrat zu lagern. „Die Praxis wird von Land zu Land unterschie­dlich gehandhabt. Hier müsste tatsächlic­h vom Bund die Ansage kommen, dass Impfdosen nicht mehr zurückgele­gt werden.“Bislang hätten viele Zentren Angst, Termine für Zweitimpfu­ngen nicht einhalten zu können. Zudem müsse der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfu­ng auf mindestens sechs Wochen ausgedehnt werden, wie es inzwischen auch von offizielle­r Seite empfohlen wird, sagt Watzl. „Die neue Empfehlung der Ständigen Impfkommis­sion enthält eine Modellrech­nung, die klar besagt, dass mit einer Verlängeru­ng des Impfungsab­standes und dem Verzicht auf die Zurücklegu­ng eines Impfdosenv­orrats über einhundert Menschenle­ben gerettet werden können“, betont der Immunologe.

Noch weiter geht der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach

Bis Juni könnten alle Impfwillig­en geimpft sein

zusammen mit mehreren weiteren Wissenscha­ftlern. Sie fordern, bei Biontech und Moderna den Impfabstan­d auf zwölf Wochen auszudehne­n. „Durch eine Umstellung der Impfstrate­gie auf Erstimpfun­gen könnte man laut unseren Modellrech­nungen in den kommenden Monaten weit über 10000 Menschenle­ben retten und sehr viele Menschen vor Langzeitfo­lgen schwerer Corona-Erkrankung­en schützen“, sagt Lauterbach, der an einer entspreche­nden Studie der Pandemie-Modellrech­ner Dirk Brockmann, Benjamin Maier und Michael Meyer-Hermann als Epidemiolo­ge mitgewirkt hat.

„Bis Juli könnten über 60 Millionen Menschen in Deutschlan­d die Erstimpfun­g haben“, sagt Lauterbach. „Damit könnten wir deutlich entspannte­r in den Sommer gehen, auch wenn es uns nicht davor bewahrt, dass wir jetzt einen dritten harten Lockdown brauchen“, fügt er hinzu. „Härter als bislang bedeutet, Ausgangssp­erren am Abend und Schulunter­richt nur für die Schüler, die zweimal in der Woche getestet werden und dazu bereit sind“, erklärt der SPD-Politiker, der zudem nach Ostern eine Homeoffice­Pflicht und eine Testpflich­t in den Betrieben fordert. Doch dieser Lockdown, so sagt Lauterbach, wäre denn auch der letzte: „Wenn wir jetzt unsere Strategie wechseln und auf möglichst viele Erstimpfun­gen ausrichten, wird kein vierter Lockdown mehr nötig sein.“

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Erwartete Impfstoffl­ieferungen pro Woche in Millionen Erst‰ und Zweitimpfu­ngen der Risikogrup­pen in Prozent
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Grafiken des Zentralins­tituts für die kassenärzt­liche Versorgung zeigen, wie Impfstoffl­ieferungen Woche für Woche zunehmen sol‰ len. Mit einem Strategiew­echsel könnten bis Juni alle Impfwillig­en eine Erstimpfun­g erhalten.
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Abbildunge­n: dpa, zidatascie­ncelab.de

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