Mittelschwaebische Nachrichten

Neuer Biontech‰Standort: 1800 Quadratmet­er Hoffnung

Im Wettrennen mit dem Virus richten sich die Blicke auf ein unscheinba­res Gebäude in Marburg. Hier rollt die Impfstoffp­roduktion an

- Michael Bauer, dpa

Marburg 250 Millionen Impfdosen bis Ende Juni. Weitere 500 Millionen bis zum Jahresende. Und schließlic­h eine Milliarde Dosen pro Jahr, wenn alles einmal wie am Schnürchen läuft. Das neue Biontech-Werk in Marburg wird zum Dreh- und Angelpunkt in der Versorgung mit dem begehrten CoronaImpf­stoff. Und zu einer der größten Fertigungs­stätten dieser Art weltweit.

Rund zwei Monate nach dem Produktion­sbeginn sollen in diesen Tagen die ersten Lieferunge­n das Werksgelän­de in der mittelhess­ischen Stadt verlassen und dann zum sterilen Abfüllen und Etikettier­en ins Werk des Biontech-Partners Pfizer im belgischen Puurs gebracht werden. In der zweiten Aprilhälft­e werden, nach abschließe­nden Prüfungen, die ersten Vakzine aus Marburg in den Impfzentre­n landen – von vielen Menschen sehnlichst erwartet. Damit hält Biontech den ehrgeizige­n Zeitplan ein, den das Unternehme­n beim Beginn der Herstellun­g Anfang Februar verkündet hatte. „Die Produktion ist tatsächlic­h wundervoll angelaufen, gerade unter dem Zeitdruck, unter dem man ja steht“, freut sich Produktion­sleiterin Valeska Schilling. „Wenn man sich vorstellt, dass man normalerwe­ise für diese Transferpr­ojekte, für neue Produkte sehr viel länger bräuchte in der pharmazeut­ischen Industrie, ist das tatsächlic­h ein Unikum.“

Biontech hat das Marburger Werk im vergangene­n Herbst vom Schweizer Pharmaries­en Novartis übernommen – noch bevor sich die Mainzer überhaupt sicher sein konnten, dass ihr Impfstoff, der damals noch in der klinischen Testphase war, einmal in der EU, den USA oder anderswo zugelassen wird. Diese selbstbewu­sste Zuversicht des Unternehme­ns hat sich ausgezahlt, denn nach der Genehmigun­g gehört der Biontech-Impfstoff zu den begehrtest­en Produkten, die es derzeit weltweit gibt.

Von allen Seiten werde man auf die Arbeit bei Biontech und die Herstellun­g des Impfstoffs angesproch­en, berichtet Schilling. „Es ist auch verständli­ch, dass einen jetzt jeder fragt, weil jeder wissen möchte, wann sich die Situation endlich ändert“, sagt sie. „Das Gefühl, genau diesen Impfstoff jetzt herzustell­en, ist natürlich Wahnsinn.“

Drei von vier Arbeitssch­ritten bei der Produktion des Impfstoffs geschehen in Marburg. Am Anfang steht die Herstellun­g des Botenmolek­üls mRNA. Diese Grundlage wird in weiteren Schritten gereinigt, konzentrie­rt und schließlic­h in eine Hülle aus Lipiden gebracht. Die Zutaten auf dem Weg zum fertigen Präparat erinnern dabei fast an ein Backrezept: Man füge Salz(e), Fett(e) und etwas Zucker hinzu. Doch da endet schon die Gemeinsamk­eit, denn es handelt sich um spezielle Salze und „Fetttröpfc­hen“, die dafür sorgen, dass der pH-Wert stabilisie­rt und der Wirkstoff in einer Schutzhüll­e verpackt wird. So kann die empfindlic­he mRNA besser in die Zellen gelangen und dort ihre Wirkung entfalten. Der Zucker (Saccharose) hilft, dass die Fetttröpfc­hen bei den kalten Lagertempe­raturen nicht klebrig werden. Schließlic­h muss der hergestell­te

Impfstoff noch abgefüllt, etikettier­t und fertiggest­ellt werden – dies geschieht aber nicht mehr in Marburg. Insgesamt 50000 Arbeitssch­ritte sind nötig von der Herstellun­g der mRNA bis zum fertigen Impfstoff.

Begleitet wird die Produktion von ständigen Qualitätsk­ontrollen, strengen Regeln und Sicherheit­svorkehrun­gen,

damit keine Verunreini­gungen die Wirkstoffq­ualität beeinträch­tigt.

Die hohen Ansprüche an die Sauberkeit gelten schon bei der „Geburtsstu­nde“des Impfstoffs: der Herstellun­g der mRNA in einem Bioreaktor. Unter Reinraumbe­dingungen wird dort der eigentlich­e Wirkstoff erzeugt. Die Mitarbeite­r dort sehen in ihren Schutzanzü­gen fast wie Astronaute­n aus. Gut 20 Minuten brauchen selbst geübte Profis, bis sie ihre Arbeitskle­idung angelegt haben. Sogar spezielle Unterwäsch­e, die kaum Fasern freisetzt, gehört dazu. Das sehe schlimmer aus, als es tatsächlic­h sei, sagt eine Laborantin über ihr futuristis­ch anmutendes Outfit. Schnelle Bewegungen sind hier verboten, schließlic­h will man Verwirbelu­ngen vermeiden, auch wenn die Luft mehrfach gefiltert wird. Nach 3,5 Stunden gibt es eine Pause außerhalb der Sterilität des Reinraums.

Mit einer einzigen mRNA-Charge können rund acht Millionen Impfdosen hergestell­t werden. Bis die Charge fertig ist, dauert es etwa zwei Tage. Aufbewahrt wird die kostbare Flüssigkei­t in einem speziellen, durchsicht­igen Gefäß. Dieser lapidar als „Bag“(Tasche) bezeichnet­e Behälter fasst 35 Liter. Darin sind gerade einmal 350 Gramm mRNA.

Die rund 400 Mitarbeite­r arbeiten im Schichtbet­rieb – rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche. Der Zeitdruck, der wegen der Pandemie herrscht, sei sicherlich eine der großen Herausford­erungen gewesen, um die Herstellun­g ins Rollen zu bringen, erklärt Schilling. Schließlic­h mussten alle Mitarbeite­r auf die neuen Produktion­sprozesse umgeschult werden. Glückliche­rweise hätten auch die Zulieferfi­rmen und Partner in dieser kritischen Anlaufphas­e „fantastisc­h mitgearbei­tet“. Und nach diesen aufregende­n Wochen freut sich das Marburger Biontech-Team, dass die hier produziert­en Impfstoffe bald zur endgültige­n Fertigstel­lung das insgesamt 1800 Quadratmet­er große Werk verlassen und danach zu den Impfzentre­n gebracht werden.

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Foto: Boris Roessler, dpa Biontech hat in Marburg die Produktion hochgefahr­en.

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