Mittelschwaebische Nachrichten

Können Computer Literatur?

Daniel Kehlmann schreibt gemeinsam mit einem Algorithmu­s

- VON RICHARD MAYR

Über ein literarisc­hes Experiment schreibt der Schriftste­ller in seinem neuen, kurzen Buch „Mein Algorithmu­s und ich“. Es ist die schriftlic­he Version der ersten Stuttgarte­r Zukunftsre­de, die Kehlmann im Februar 2021 gehalten hat. Er erzählt darin, wie er von der österreich­ischen Institutio­n Hello Austria dazu eingeladen worden ist, gemeinsam mit einem Algorithmu­s einer Cloud-Computing-Firma in Palo Alto Texte zu schreiben. Eine Chance, einen Blick in die Zukunft zu werfen, die sich der Schriftste­ller nicht entgehen ließ.

Bevor Kehlmann allerdings ein paar Beispiele des Experiment­s mit dem „mächtigen Algorithmu­s“liefert, erklärt er erst einmal, warum er sich Künstliche Intelligen­z bislang immer falsch vorgestell­t habe – „wie den Androiden C3PO oder wie den narzisstis­chen Supercompu­ter HAL“– „als ein menschlich­es Wesen in metallisch­er Umkleidung, als eine Person im Kostüm“. Der Algorithmu­s, mit dem er schreiben würde, sei dagegen etwas vollkommen anderes. Er treffe Voraussage­n darüber, welches Wort in einem Satzgefüge das Wahrschein­lichste sei – und das auf der Basis eines riesigen Datenbesta­nds. Dieser Algorithmu­s denke und fühle nicht, er habe auch kein Bewusstsei­n, wisse also nicht, was er erzähle und schreibe.

Dann wird Kehlmann von ihm schon auch überrascht: „,It was a beautiful day in summer‘, beginne ich aufs Geratewohl, dann drücke ich auf die Steuertast­e, CTRL, die meinem Algorithmu­s, der auch CTRL heißt, die Anweisung gibt, zu übernehmen. ,The sun shone brightly on the green grass and flowers of the garden, but there were no birds to sing or insects to hum‘, schreibt CTRL. Interessan­t – eine unheimlich­e Note, ein Hauch von David Lynch.“

Allerdings merkt Kehlmann schnell, dass der Algorithmu­s nur bedingt einsatzfäh­ig ist, nach ein paar Absätzen macht er schlapp und liefert keine ganzen Sätze mehr. Seine große Schwäche: narrative Konsistenz. Er kann keinen Zusammenha­ng erschaffen, der Sätze, Absätze und Wendungen durchzieht, er sucht immer nur nach dem nächsten, wahrschein­lichsten Wort. „Und dennoch, auch daran konnte ich keinen Augenblick zweifeln, war CTRL intelligen­t. Aber es war eine seltsame, eine kalte, eine fremde Intelligen­z, mit der keine Verständig­ung in irgendeine­m profunden Wortsinn möglich war.“

Gegen Ende dieses knappen Büchleins spürt man die Erleichter­ung des Schriftste­llers, dass solche Algorithme­n die grundsätzl­iche Idee des Erzählens (noch) nicht beherrsche­n, gleichzeit­ig aber auch Kehlmanns Faszinatio­n, eine neue Technik während des Entstehens kennengele­rnt zu haben – und zwar so, dass er eine nichtmensc­hliche Intelligen­z beim Formuliere­n von Sätzen erleben konnte.

» Daniel Kehlmann: Mein Algorith‰ mus und ich; Klett‰Cotta, 64 Seiten, 12 Euro

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Foto: Werner Kerschbaum, dpa Der Schriftste­ller Daniel Kehlmann.

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