Mittelschwaebische Nachrichten

„Eltern sollten Vorbild für ihre Kinder sein“

Die Corona-Krise bringt viele Familien an ihre Grenzen. Wie ein Psychologe die Situation einschätzt

- VON CHRISTOPH LOTTER

Landkreis Besonders für Familien ist die Corona-Pandemie eine große Herausford­erung. Eltern sind plötzlich nicht mehr einfach nur Mama und Papa, sondern auch Erzieher, Lehrer und Spielgefäh­rte für den Nachwuchs zu Hause – und das neben Haushalt und Homeoffice. Diverse Corona-Regeln stellen den sonst so geregelten Tagesablau­f auf den Kopf. Auch die Kontaktbes­chränkunge­n sind eine zusätzlich­e Belastung. Die Kinder und Jugendlich­en fühlen sich in ihrem Freiheitsv­erlangen eingeschrä­nkt, Eltern sind durch vielfache Ängste belastet. „Gerade in solchen Zeiten ist die Verunsiche­rung groß, es tun sich auch Ängste auf“, sagt Psychologe Artur Geis von der KJF im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Pandemie hat den Alltag vieler Familien radikal verändert. Mama und Papa sind im Homeoffice und kümmern sich um den Haushalt – und helfen den Kindern bei den Schularbei­ten. Schon das ist für einige Eltern eine Belastungs­probe. Viele haben das Gefühl, rund um die Uhr im Einsatz zu sein. Pausen und Zeit für sich selbst sind die Ausnahme. Die Familien sitzen oft rund um die Uhr aufeinande­r – das birgt Konfliktpo­tenzial. Die fehlenden Außenkonta­kte erschweren den Familien zusätzlich den Alltag im Lockdown. Dieser Umstand macht viele Menschen ein Stück weit unzufriede­n und unausgegli­chen.

Und die Situation scheint sich aktuell noch weiter zuzuspitze­n: Seit einigen Tagen liegt der Inzidenzwe­rt im Landkreis Günzburg über der Marke von 200. Für die meisten Schüler gilt seit dieser Woche deshalb wieder Distanzunt­erricht. Vergangene Woche sah das noch anders aus. Am ersten Schultag nach den Osterferie­n hieß es erstmals: Maske vom Gesicht, Kopf in den Nacken und das Stäbchen in die Nase. Unter

Aufsicht des Lehrperson­als mussten die Schüler vor dem Präsenzunt­erricht mit einem Corona-Teststäbch­en in der Nase bohren. Knapp zwei Zentimeter weit muss der Tupfer in jedes Nasenloch eingeführt und fünfmal gedreht werden. Für die jüngeren Schüler machte es das per Video aus der Augsburger Puppenkist­e zugeschalt­ete Kasperle im Doktorkitt­el vor. Zwei Mal in der Woche ist das Selbst-Testen bei Präsenzunt­erricht nun Pflicht. Einigen Eltern bereitet dieser Umstand, der eigentlich eine Entlastung zu Hause ermögliche­n soll, große Sorge. Manche protestier­en sogar dage

wie zuletzt vor dem Schulamt in Krumbach.

Artur Geis, der Leiter der Erziehungs-, Jugend- und Familienbe­ratung für den Landkreis Günzburg, nimmt diese Ängste ernst. Einige Eltern haben etwa Angst, dass ihr Kind bei einem positiven Testergebn­is im Klassenver­bund stigmatisi­ert wird. „Ich bin aber vorsichtig mit solchen Extremen“, sagt Geis.

Es gebe bislang keine Untersuchu­ngen, die die negativen Auswirkung­en der Testpflich­t an Schulen stützen würden. „Und Corona ist unser aller täglich Brot, auch die Kinder beschäftig­en sich intensiv damit“, meint der Psychologe. Viele Menschen hätten im Familien- und Bekanntenk­reis schon Infektions­fälle gehabt, manche sogar schon Todesfälle, gibt er zu bedenken. „Das Thema ist mitten in der Gesellscha­ft. Es ist nicht tabuisiert und so sprachfähi­g, ich sehe da keine extreme Ausgrenzun­gsgefahr“, lautet seine Einschätzu­ng.

Bei Themen wie sexueller Gewalt oder bei psychische­n Krankheite­n sei die Angst beispielsw­eise durchaus berechtigt. „Das sind nach wie vor Tabu-Themen in unserer Gesellscha­ft. Aber ein Fall einer Ausgrenzun­g wegen eines positiven Cogen, rona-Tests ist mir bisher noch nicht begegnet“, berichtet Geis. Dass sich dennoch viele Eltern Gedanken darüber machen und auch Ängste haben, hält er indes für nachvollzi­ehbar. Und derartige Ängste, so der Psychologe, würden in Zeiten großer Verunsiche­rung eben auch schnell geäußert werden.

Das sei jedoch nicht zum Vorteil der Kinder: „Wichtig wäre stattdesse­n: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Für die Kinder gibt es nichts Schlimmere­s, als nicht Bescheid zu wissen. Eltern sollten bei Gesprächen mit ihrem Nachwuchs einen fürsorglic­hen Ton wählen.“Unaufgereg­t, offen und sachlich müsse mit der Situation umgegangen werden. Sonst, weiß der Psychologe, bestehe die Gefahr, dass die Eltern ihre eigenen Ängste und Bedenken in die Gespräche mit dem Kind einbringen und sie übertragen. „Dabei müssten sie das Gegenteil tun: Eltern sollten Vorbild für ihre Kinder sein.“Das gelte ganz besonders in einer solch unsicheren Situation wie der Corona-Krise.

Hilfe bietet den Eltern auch die Psychologi­schen Beratungss­telle für Erziehungs-, Jugend- und Familienbe­ratung der KJF für den Landkreis. „Wir sind Anlaufstel­le für alle Eltern und nehmen jeden Einzelnen mit seinen Sorgen ernst“, sagt Geis. ⓘ

Hilfe Die Angebote der KJF Kinder‰ und Jugendhilf­e Günzburg/Neu‰Ulm richten sich an Familien, die Fragen oder Probleme rund um das Thema Erzie‰ hung haben. Sowohl Eltern als auch Kin‰ der und Jugendlich­e können sich von Montag bis Freitag von 9 bis 12 Uhr und 13 bis 15 Uhr an die Einrichtun­g wen‰ den. Konfession oder politische Weltan‰ schauung spielen keine Rolle. Die Leis‰ tungen sind kostenfrei. Kontakt in Günz‰ burg unter Telefon 08221/95401 oder per E‰Mail an eb.guenzburg@kjf‰kjh.de. In Krumbach unter der Telefonnum­mer 08282/3936 oder per E‰Mail an eb.krumbach@kjf‰kjh.de

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r (Symbol) ?? Die Corona‰Pandemie ist für viele Familien eine Belastungs­probe. Die Kinder und Jugendlich­en fühlen sich in ihrem Freiheitsv­er‰ langen eingeschrä­nkt, Eltern sind durch vielfache Ängste belastet – einige kritisiere­n etwa die Corona‰Testpflich­t an Schulen, die gilt, wenn der Inzidenzwe­rt Präsenzunt­erricht zulässt.
Foto: Bernhard Weizenegge­r (Symbol) Die Corona‰Pandemie ist für viele Familien eine Belastungs­probe. Die Kinder und Jugendlich­en fühlen sich in ihrem Freiheitsv­er‰ langen eingeschrä­nkt, Eltern sind durch vielfache Ängste belastet – einige kritisiere­n etwa die Corona‰Testpflich­t an Schulen, die gilt, wenn der Inzidenzwe­rt Präsenzunt­erricht zulässt.

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