Mittelschwaebische Nachrichten
Flucht in den Speicherstaub
Der Abwehrkampf gegen Corona verändert nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Gesichter. Die „Notbremse“vertreibt fast alle Signale der Heiterkeit aus den menschlichen Gesichtsflächen zwischen Haaransatz und Kinn. Allerdings kennen kluge Mitmenschen ein Mittel gegen den allgemeinen Stimmungsverfall: Sie nutzen Hausarrest und Ausgangssperre, um endlich einmal richtig aufzuräumen. Bei der Jagd auf Überflüssigkeiten gelangen sie bis zu den Bodenschichten ihrer Biografie. Das kann glücklich machen.
Mit seiner Ordnungswut stößt selbst der angejahrte Stöberer auf die schönsten Entdeckungen. Eine Zeichnung aus dem Kunstunterricht der Grundschule erinnert an seine frühe Absicht, die Welt mit eigenen Werken in Staunen zu versetzen. Eine verstaubte Rose aus rotem Papier zaubert ihm Bilder aus der Zeit seiner allerersten Liebe ins Gedächtnis. Eine immer noch freche Mütze belegt seinen jugendlichen Unternehmungsgeist. Und eine angegraute Urkunde bestätigt seinen ehemaligen Drang zu Höherem mit der Bestätigung seiner Spitzenleistung im Hochsprung.
Wenn dieser private Ordnungshüter nach dem großen Reinemachen aus der Welt der Vergangenheit in die Corona-Welt der Gegenwart zurückkehrt, versteht er plötzlich, was der antike Dramatiker Euripides meinte, als in seinem Stück „Hekabe“den Satz niederschrieb: „Schlecht ergeht es dir, wie es dir einstmals gutging. Dich stürzt ein Gott in die Beschwerlichkeit zum Ausgleich für das Glück in der Vergangenheit.“