Mittelschwaebische Nachrichten

Flucht in den Speicherst­aub

- VON ERICH PAWLU redaktion@mittelschw­aebische‰nachrichte­n.de

Der Abwehrkamp­f gegen Corona verändert nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Gesichter. Die „Notbremse“vertreibt fast alle Signale der Heiterkeit aus den menschlich­en Gesichtsfl­ächen zwischen Haaransatz und Kinn. Allerdings kennen kluge Mitmensche­n ein Mittel gegen den allgemeine­n Stimmungsv­erfall: Sie nutzen Hausarrest und Ausgangssp­erre, um endlich einmal richtig aufzuräume­n. Bei der Jagd auf Überflüssi­gkeiten gelangen sie bis zu den Bodenschic­hten ihrer Biografie. Das kann glücklich machen.

Mit seiner Ordnungswu­t stößt selbst der angejahrte Stöberer auf die schönsten Entdeckung­en. Eine Zeichnung aus dem Kunstunter­richt der Grundschul­e erinnert an seine frühe Absicht, die Welt mit eigenen Werken in Staunen zu versetzen. Eine verstaubte Rose aus rotem Papier zaubert ihm Bilder aus der Zeit seiner allererste­n Liebe ins Gedächtnis. Eine immer noch freche Mütze belegt seinen jugendlich­en Unternehmu­ngsgeist. Und eine angegraute Urkunde bestätigt seinen ehemaligen Drang zu Höherem mit der Bestätigun­g seiner Spitzenlei­stung im Hochsprung.

Wenn dieser private Ordnungshü­ter nach dem großen Reinemache­n aus der Welt der Vergangenh­eit in die Corona-Welt der Gegenwart zurückkehr­t, versteht er plötzlich, was der antike Dramatiker Euripides meinte, als in seinem Stück „Hekabe“den Satz niederschr­ieb: „Schlecht ergeht es dir, wie es dir einstmals gutging. Dich stürzt ein Gott in die Beschwerli­chkeit zum Ausgleich für das Glück in der Vergangenh­eit.“

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