Mittelschwaebische Nachrichten

Aufstand in Schottland

Eigentlich wählen die Menschen im Norden des Vereinigte­n Königreich­s nur ihr Regionalpa­rlament. Aber dahinter steht eine historisch­e Frage: Gibt es bald ein neues Referendum über die Unabhängig­keit? Es ist eine Schicksals­wahl – nicht nur für die Schotten

- VON KATRIN PRIBYL

Edinburgh Der Freiheitsk­ampf beginnt vor einem Wettbüro gleich neben einem Kebab-Laden. Angus Robertson trägt Jeans und weiße Sneakers, über die Daunenjack­e hat sich der 51-Jährige eine neongelbe Weste gestreift. „Stronger for Scotland“, stärker für Schottland, steht auf der Brust. Robertson leuchtet an diesem Mittwochab­end regelrecht im grauen Nieselrege­n von Edinburgh. Mit schnellen Schritten geht er durch die Straßen, klingelt sich durch verwechsel­bare Häuserbloc­ks und schiebt auf jeder Etage Flugblätte­r durch die Briefschli­tze. „Bitte geht wählen“, ruft er den wenigen Passanten zu, denen er begegnet, und streckt die Daumen nach oben.

Der Politiker versprüht Optimismus, und möchte man den Umfragen glauben, hat der Kandidat der Schottisch­en Nationalpa­rtei SNP im wichtigen Wahlbezirk Edinburgh Central dazu allen Grund. An diesem Donnerstag wählen 5,5 Millionen Schotten ein neues Regionalpa­rlament. Doch es wäre vermessen, diesen Urnengang als lokale Angelegenh­eit abzutun. Es könnte vielmehr eine Schicksals­wahl werden – für das Vereinigte Königreich, für den britischen Premiermin­ister Boris Johnson, für die EU, aber vor allem für Schottland selbst.

Denn die SNP will nichts wie raus aus der Union mit England, die in ihrer 314-jährigen Geschichte zwar nie ganz einfach war, aber als erfolgreic­h bezeichnet werden darf. Nun bröckelt die Vereinigun­g wie vielleicht nie zuvor. „Scexit“nennen die Abspaltung­sbefürwort­er den Traum von der Unabhängig­keit, der nach dem verlorenen Referendum 2014 kurz ausgeträum­t schien und dann durch die europaskep­tischen Konservati­ven in Westminste­r und das Brexit-Votum wieder beflügelt wurde. Bei der Abstimmung um Großbritan­niens Mitgliedsc­haft in der EU 2016 sprachen sich knapp zwei Drittel der Menschen in Schottland für den Verbleib aus. Besiegt und gelenkt von England, wieder einmal. Seit 1603 wird die Provinz von London aus regiert.

Endlich die eigenen Entscheidu­ngen im eigenen Land über die eigene Zukunft treffen: So verlangt es Angus Robertson, der eine deutsche Mutter hat und sich als Europäer betrachtet. „Wir wurden gegen unseren Willen aus der EU gezerrt.“Es ist der Schlachtru­f der Nationalis­ten, angeführt von der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon. Die SNP will den Brexit umkehren. Zurück in die Zukunft, wenn man so will.

Sturgeon verpasst keine Gelegenhei­t, Schottland als weltoffene­n, soziallibe­ralen und europafreu­ndlichen Gegenentwu­rf zum isolationi­stischen, engstirnig­en und intolerant­en Brexit-England zu bewerben. Gleichzeit­ig stilisiert sich Sturgeon als so etwas wie der Anti-Boris. So konnte sie während der Pandemie geschickt übertünche­n, dass das Krisenmana­gement im Ergebnis kaum besser ausfiel als in England.

Während Johnson mit hochtraben­den, unrealisti­schen Verspreche­n und Kehrtwende­n verwirrte, präsentier­te sich Sturgeon kühl, sachlich, ernsthaft. Der Premier ist, das kann man nicht anders sagen, ein Geschenk für die Unabhängig­keitsfans und hat sich zum besten Rekrutiere­r für die Bewegung entwickelt. „Johnson erinnert die Menschen an die Hässlichke­it des englischen Nationalis­mus“, sagt David Leask von der schottisch­en Tageszeitu­ng The Herald. Immerhin in diesem Punkt scheint weitgehend­e Einigkeit in der sonst gespaltene­n Gesellscha­ft zu herrschen.

Diese Wahl sei „die wichtigste in Schottland­s Geschichte“, verkündete Sturgeon und schürte damit hohe Erwartunge­n. Unter Umständen zu hohe? Dass die seit 14 Jahren regierende SNP erneut stärkste Kraft wird, steht außer Zweifel. Hinzu kommt, dass auch die Grünen zum abspaltung­swilligen Lager gehören. Die Frage ist nur: Wie groß wird die Mehrheit für die Nationalis­ten sein? Ohne absolute Mehrheit dürfte es der SNP schwerfall­en, den Ausgang als Erfolg zu verkaufen.

Dabei plant die Erste Ministerin, mit einem eindeutige­n Mandat der Wähler im Rücken ein erneutes Referendum zu fordern. Ihr größtes Problem sitzt jedoch in der Downing Street. Regierungs­chef Johnson muss einer Volksbefra­gung zustimmen, was der Konservati­ve vehement ablehnt. Noch. Der Druck könnte zu groß werden. „Falls London den Menschen in Schottland sagt, sie könnten keine demokratis­che Wahl über die Zukunft ihres eigenen Landes haben, verlagert sich die Angelegenh­eit und es ist nicht mehr länger eine Frage der Unabhängig­keit, sondern der Demokratie“, sagt der SturgeonVe­rtraute Angus Robertson.

Wie die Staatengem­einschaft auf die Hoffnungen der Schotten reagieren wird, steht derweil noch aus. Doch Robertson nennt es das „beste Gegenmitte­l“für die geschunden­e Seele der EU-Freunde. „Was sagt es aus, wenn ein Teil von Brexit-Britannien nicht in Brexit-Britannien bleiben, sondern unmittelba­r zurück in die EU will?“In Brüssel dürfte ihnen das Herz aufgehen.

In Westminste­r dagegen herrscht latente Panik. Plötzlich loben die europaskep­tischen Konservati­ven die Vorteile einer Union und malen Horrorszen­arien für den Fall einer Abspaltung. Die Ironie dürfte selbst ihnen kaum entgehen. Trotzdem, die wirtschaft­lichen Herausford­erungen eines autonomen Schottland­s sind immens. Würde es eine Handelsgre­nze zwischen dem nördlichen Landesteil und England geben? Welche Währung würden die Schotten nutzen? Der Brexit klingt wie eine Kindergebu­rtstagsübu­ng angesichts der Aussicht, die engen wirtschaft­lichen Verflechtu­ngen zwischen Schottland und dem Rest des Königreich­s auflösen zu müssen.

Auf die schottisch­e Wirtschaft kämen Kosten zu, die zwei oder drei Mal teurer ausfallen würden als jene des Brexits, prophezeit­en jüngst Wissenscha­ftler der London School of Economics in einer Studie. Gegner der Abspaltung verfolgten mit Entsetzen die Brexit-Dramen der letzten Jahre und schütteln nun erst recht den Kopf.

Vor dem Schloss in Edinburgh steht ein Händler mit Magneten, auf denen die schottisch­e Flagge mit dem weißen Andreaskre­uz prangt. Der Patriotism­us der schottisch­en Rebellen mag in Königsblau gehüllt sein, doch er berührt mehr als Dudelsackk­länge, Tartans und Whisky aus den Highlands. Es geht um Emotionen. Um Herzblut. Ein bisschen Braveheart, ein bisschen AntiEnglan­d, vor allem aber soll ein nationaler Aufbruch stattfinde­n. Jetzt könnten sie die vorerst letzte Chance erhalten.

Zwischenze­itlich lagen die Befürworte­r einer Loslösung in Umfragen sogar vorn. Zuletzt zeigten diese wieder eine leichte Mehrheit für die Anhänger der Union. Experten schieben die Entwicklun­g auch auf den Brexit, der nicht so schlimm wie befürchtet ausgefalle­n ist. Außerdem sind die Menschen zurzeit vor allem mit der Corona-Krise beschäftig­t, noch immer gelten weitreiche­nde Restriktio­nen, sodass der Appetit auf ein Referendum in vielen Ecken äußerst gering ist.

In Kirkcaldy scheint die Stimmung bereits gekippt zu sein. So deuten es Umfragen an. Nur rund 40 Zugminuten von Edinburgh entfernt liegt das Küstenstäd­tchen, das einst Ruhm als „Fußboden der Welt“erlangte; es war das Zentrum der Linoleum-Produktion. Der Geruch aus den Fabriken, so erzählen sie es sich bis heute, war streng, gehörte aber zum Alltag und garantiert­e Wohlstand. In den 60er Jahren jedoch begann der Niedergang. Erst schloss eine Fabrik nach der anderen, dann machten auch die nahen Kohleminen zu. Zahlreiche Menschen verloren ihre Jobs. In dem Ort hat das Spuren hinterlass­en. Verlassene Geschäftsz­eilen wechseln sich in der Fußgängerz­one mit EinPfund-Billigläde­n ab. 2014 noch wollte die Mehrheit der Bewohner Teil des Königreich­s bleiben, heute scheinen die Abspaltung­sbefürwort­er zu überwiegen.

Louise McGeachy gehört zu jenen, die einen Sinneswand­el hatten. Ihr Urgroßvate­r war einer der Gründungsv­äter der SNP, die Sehnsucht nach Unabhängig­keit wurde weitervere­rbt bis zum Vater. McGeachys Mutter steht dagegen auf der anderen Seite. Im Elternhaus hing deshalb während der Kampagne in einem Fenster ein „No!“-Poster, im anderen ein „Yes!“-Plakat. Die Frage stört seit Jahren den Familienfr­ieden bei den McGeachys. Die junge Schottin lacht. „Meine Mutter ist alles andere als glücklich über meinen Meinungsum­schwung.“Mehrere Faktoren hätten dazu beigetrage­n. Ja, der Brexit. Auch Nicola Sturgeons Umgang mit der Pandemie. Und die natürliche­n Ressourcen vor der Küste als Rückgrat für die Wirtschaft. Aber es ist vor allem eine Herzenssac­he. „Wir sind schlichtwe­g anders als die Engländer“, sagt ihr Verlobter Alan Rocks.

Der 26-Jährige hat nie etwas anderes als SNP gewählt. Und doch passt er nur schwer ins Muster. 2016 votierte er beim EU-Referendum für den Ausstieg Großbritan­niens, „um das System zu erschütter­n“, wie er sagt. Nun unterstütz­t er die Idee der schottisch­en Autonomie und wünscht sich, dass man nach der Unabhängig­keit wieder Mitglied der EU wird, „um das System zu erschütter­n“. Auf ein Neues. Rocks schmunzelt. „Ergibt das Sinn?“, fragt er. Politik auf der Insel ist alles andere als schwarz und weiß.

Gegenüber von Kirkcaldy, am südlichen Ufer des Firth of Forth, einem Meeresarm an der Ostküste, liegt an diesem Frühlingst­ag North Berwick in der Sonne. Der kleine Küstenort ist die Reinform des Bilderbuch-Schottland­s. Ohne Corona würden sich hier tausende von Touristen tummeln. Lange Sandstränd­e. Hübsche Häuschen. Vorgelager­te Inseln. Spektakulä­re Ausblicke. Und zum Mittagesse­n gibt’s frischen Hummer.

Möglicherw­eise stammt der Lobster von Jack Dale. Wenn frühmorgen­s der Wind weniger kräftig bläst, schippert der 71-Jährige mit einem seiner zwei Kutter raus und holt täglich 40 bis 50 Kilogramm Krustentie­re aus dem Meer. Er trägt schwere Stiefel, Mütze und Handschuhe. Kalt ist es hier eigentlich immer. Anders als die Hochseefis­cher im nördlichen Landesteil beeinträch­tigt der Brexit ihn und seine Küstenfisc­her-Kollegen kaum. Die zusätzlich­e Bürokratie für ExportGesc­häfte

„Wir wurden gegen unseren Willen aus der EU gezerrt“

„Unabhängig­keit wäre ein komplettes Desaster“

haben sie an eine Firma ausgelager­t. Dale versucht eh, den Fang lokal zu verkaufen, statt ihn auf den Kontinent zu liefern.

Umso mehr treibt ihn die Debatte um ein erneutes Schottland-Referendum um. „Unabhängig­keit wäre ein komplettes Desaster“, sagt er. „Selbstmord.“Völliger Realitätsv­erlust. Die ganze Bewegung ähnele einer Glaubensbe­wegung, findet er. Inklusive Nicola Sturgeon als Hohepriest­erin. „Wir kämpfen jetzt schon mit genügend Ungewisshe­iten und Herausford­erungen wie Klimawande­l, Brexit und Meeresvers­chmutzung durch Plastik.“Wer im produziere­nden Gewerbe tätig sei, betrachte die Autonomie als Albtraum, unter anderem aufgrund der höheren Steuern, die drohen. Der Fischer wünscht sich deshalb junge Politiker, die unternehme­rische Erfahrung mitbringen. „In Schottland haben wir schrecklic­h viele Leute, die nichts machen.“Tatsächlic­h lockt die SNP viele junge Menschen an, die mit zunehmende­m Alter und steigender Steuerlast oft wieder vom Freiheitst­raum abkommen.

Wer dieser Tage durch Schottland reist, trifft auf Verunsiche­rung. Abseits der beiden Lager – auf der einen Seite die unbeirrbar­en Unabhängig­keits-Fanatiker, auf der anderen die absoluten Gegner – versuchen die Menschen, die schwierige Rechnung aufzustell­en nach all den traumatisc­hen Corona-Monaten: Ist es riskanter, im Königreich zu verbleiben – oder am Donnerstag die Nationalis­ten zu wählen, um dann möglicherw­eise nach einem Unabhängig­keitsrefer­endum in einem eigenständ­igen Schottland zu leben?

Der Journalist David Leask weiß nicht, wie es ausgehen wird. „Es gibt zu viele Unbekannte.“Eines aber weiß er: „Dies ist nicht eine Art nationalis­tische, populistis­che Bewegung à la Brexit oder Trump.“

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Archivfoto: Andrew Milligan/PA Wire, dpa Einfach nur „Ja“oder „Nein“anzukreuze­n wie beim Unabhängig­keitsrefer­endum 2014, geht bei der Wahl des Regionalpa­rlaments natürlich nicht. Aber genau darauf läuft es bei der Abstimmung hinaus, sprich auf die Frage: Gibt es schon bald ein neues Referendum?
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Angus Robertson tritt in Edinburgh für die Scottish National Party an.
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Fotos (2): Katrin Pribyl Jack Dale ist Hummer‰Fischer in North Berwick.

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