Mittelschwaebische Nachrichten

Muss Kardinal Marx jetzt zurücktret­en?

Der Münchner Erzbischof hat Fehler im Umgang mit einem des Missbrauch­s beschuldig­ten Pfarrer eingeräumt. Wie Kirchenrec­htler Thomas Schüller den Fall einschätzt

- VON DANIEL WIRSCHING

München Für Missbrauch­sopfer bedeutet es einen Fortschrit­t; für Kardinal Reinhard Marx aber könnte es zum Rücktritt führen: Der Münchner Erzbischof sprach sich kürzlich für eine „genauere Untersuchu­ng“seines Umgangs mit einem Pfarrer aus, der Minderjähr­ige sexuell missbrauch­t haben soll. Marx, so warfen es ihm zwei Kirchenrec­htler in der Zeit-Beilage Christ&Welt vor, habe sich eindeutige­r Pflichtver­letzungen schuldig gemacht. Dem Münsterane­r Kirchenrec­htsprofess­or Thomas Schüller zufolge ist er seiner Aufklärung­s-, Melde-, Informatio­ns- und Verhinderu­ngspflicht nicht nachgekomm­en. Im Gespräch mit unserer Redaktion nennt Schüller es „ein ganzes Bündel an gravierend­en Amtspflich­tverletzun­gen“.

Wegen nur eines Verstoßes gegen die Aufklärung­spflicht in einem Missbrauch­sfall wurde der Kölner Weihbischo­f Ansgar Puff im März auf eigenen Wunsch vorläufig beurlaubt. Zuvor hatten wegen mehrerer im „Gercke-Gutachten“für das Erzbistum Köln festgestel­lter Pflichtver­letzungen Weihbischo­f Dominikus Schwaderla­pp sowie Stefan Heße, zuletzt Hamburger Erzbischof, dem Papst ihren Amtsverzic­ht angeboten. Die Frage, die sich zwangsläuf­ig stellt: Muss es ihnen Kardinal Marx nun gleichtun?

Es sind die Schatten seiner Trierer Bischofsze­it ab 2002, die ihn einholen. Und nicht allein ihn. Mit dem Fall von Pfarrer M. aus dem Saarland waren zwei weitere hochrangig­e Kirchenmän­ner befasst: Neben Marx, der bis 2020 Vorsitzend­er der Deutschen Bischofsko­nferenz (DBK) war, der heutige Limburger Bischof Georg Bätzing, das ist der aktuelle DBK-Vorsitzend­e – sowie der Trierer Bischof Stephan Ackermann, Missbrauch­sbeauftrag­ter der DBK. Marx wird vorgeworfe­n, nicht gehandelt zu haben, nachdem er 2006 starke Hinweise darauf bekommen habe, dass M. ein Missbrauch­stäter sein könnte. Der Geistliche, so Christ&Welt, blieb daraufhin jahrelang unbehellig­t, hatte Kontakt zu Kindern und Jugendlich­en, fuhr mit ihnen in Urlaub – und wurde mehrfach angezeigt. Marx räumte Fehler ein: „Mein Verhalten damals bedauere ich sehr.“Auch Unwissenhe­it bei falschem Handeln beziehungs­weise Unterlasse­n verhindere nicht, dass Verantwort­ung und auch Schuld vorliegen und übernommen werden müssten.

Marx verzichtet­e bereits auf das Bundesverd­ienstkreuz, das er am vergangene­n Freitag hätte erhalten sollen. Eine Entscheidu­ng, die ihm selbst unter Missbrauch­sopfern Respekt einbrachte – wie die Gründung einer Stiftung, die Betroffene­n helfen soll. In diese hatte Marx „den allergrößt­en Teil“seines Privatverm­ögens – 500000 Euro – gegeben, wie er im Dezember sagte. Die Kirche und er persönlich hätten lange gebraucht zu verstehen, dass das System Kirche als Ganzes schuldig geworden sei.

In der Tat deutet manches darauf hin, dass Marx einen Lernprozes­s durchlaufe­n hat. Zu Beginn des Missbrauch­sskandals in Deutschlan­d, 2010, hatte er sich hinsichtli­ch der Fälle in der oberbayeri­schen

Benediktin­erabtei Ettal zwar als kompromiss­loser Aufklärer präsentier­t. Das jedoch, so damals die hinter vorgehalte­ner Hand geäußerte Kritik aus Kirchenkre­isen, auf Kosten des Klosters und zu seiner eigenen Profilieru­ng.

Noch heute wirft ihm Kriminolog­e Christian Pfeiffer vor, der „Hauptschul­dige“dafür zu sein, dass beim kirchliche­n Umgang mit Missbrauch­sfällen keine Transparen­z herrsche. Dabei kann man Marx inzwischen Aufklärung­swillen auch in eigener Sache nicht mehr absprechen. Verantwort­ungsüberna­hme in Form eines Rücktritts war für ihn dabei zumindest in der Vergangenh­eit ein fern liegender Gedanke.

Was ebenso für den DBK-Vorsitzend­en Bätzing gilt, der erst Ende Februar sagte, mit seinem Rücktritt sei „niemandem geholfen“. Das allerdings war wenige Wochen vor Veröffentl­ichung des Gercke-Gutachtens, das hochrangig­e Kölner Kleriker schwer belastete – nicht aber Kardinal Rainer Maria Woelki, was höchst umstritten ist.

Das Gercke-Gutachten als rein juristisch­es Gutachten wurde vielfach kritisiert. Dennoch könnte es in einem Punkt stilbilden­d werden: Der Kölner Strafrecht­ler Gercke hatte „Pflichtenk­reise“herausgear­beitet, an denen sich das Verhalten kirchliche­r Verantwort­ungsträger einheitlic­h bewerten ließe. Dies zugrundege­legt, müssten eigentlich mehrere Bischöfe ihren Amtsverzic­ht anbieten. Kirchenrec­htler Schüller verweist im Fall Marx auf die angekündig­te unabhängig­e Untersuchu­ng, deren Ergebnis es abzuwarten gelte. Sollten sich die Verdachtsm­omente bestätigen, sagt er, „wäre wohl ein Moment gekommen, wo der Kardinal selbst erkennen dürfte, dass er dem Papst seinen Rücktritt anbieten sollte“. Die Maßstäbe für einen Rücktritt seien unter anderem durch die päpstliche Gesetzgebu­ng aus den Jahren 2001, 2010 und 2019 klar rechtlich hinterlegt. Ob der Papst ein Rücktritts­gesuch annimmt, ist eine andere Frage. Wie die, ob er einen mächtigen Kardinal wie Marx – einer seiner engsten Berater – fallen lassen möchte.

Die nächste Erschütter­ung für Marx und die katholisch­e Kirche steht derweil bereits bevor. Vermutlich im Spätsommer will er ein von ihm in Auftrag gegebenes unabhängig­es Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl vorstellen. Es ist die Kanzlei, deren Gutachten für das Erzbistum Köln lange unter Verschluss gehalten wurde und dann kurzzeitig zur Einsichtna­hme auslag. Woelki hatte es massiv kritisiert und Gercke mit einem zweiten Gutachten beauftragt.

Die Münchner Anwälte untersuche­n für das Erzbistum München und Freising Fälle von 1945 bis 2019 – Marx wurde 2008 dort in sein Amt eingeführt. Schüller erwartet „einen ungeschönt­en rechtliche­n Blick“auf das Verhalten der Münchner Erzbischöf­e inklusive Marx „auf der Folie des kirchliche­n Selbstvers­tändnisses, das mehr ist als der Katechismu­s“. Dabei dürfe weder die kurze, aber wichtige Amtszeit von Joseph Ratzinger – dem späteren Papst Benedikt XVI. – noch die lange Amtszeit von Friedrich Wetter, die beide ja noch lebten, ausgespart werden.

 ?? Foto: Tobias Hase, dpa ?? Reinhard Marx, 67, ist seit 2008 Erzbischof von München und Freising. 2010 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt.
Foto: Tobias Hase, dpa Reinhard Marx, 67, ist seit 2008 Erzbischof von München und Freising. 2010 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt.

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