Mittelschwaebische Nachrichten

Warten auf Gleichbere­chtigung im Nahverkehr

Heute ist der Europäisch­e Protesttag zur Gleichstel­lung von Menschen mit Behinderun­g. Doch wie funktionie­rt es beispielsw­eise, wenn sie öffentlich­e Verkehrsmi­ttel im Kreis Günzburg nutzen wollen? Eine Rollstuhlf­ahrerin berichtet

- VON CHRISTIAN KIRSTGES

Günzburg Für Rollstuhlf­ahrer ist es ein Ding der Unmöglichk­eit, von Günzburg aus einen Fernverkeh­rszug zu nutzen. Schließlic­h fehlen am Bahnhof eine Einstiegsh­ilfe und das dafür nötige Personal. Die ehemalige Günzburger Behinderte­nbeauftrag­te Doris Schwarz hat den Artikel unserer Zeitung darüber zum Anlass genommen, den Versuch einer Fahrt im Nahverkehr zu schildern – wohlgemerk­t eben den Versuch. Denn anhand dessen, was sie schreibt, wird deutlich: Es gibt offenbar eine Reihe von Problemen für Rollstuhlf­ahrer, wenn sie von A nach B kommen wollen.

Geplant hatte sie, am Freitag, 23. April, mit dem Bus 851 vom Stadtbach in Günzburg kurz vor 12 Uhr nach Offingen zu fahren. Laut Fahrplan handele es sich um ein Niederflur­fahrzeug, das rollstuhlg­eeignet sei. Zurückfahr­en wollte sie mit dem Regionalzu­g R9 um 15.09 Uhr – da der Busfahrpla­n keinen Niederflur­bus von Offingen nach Günzburg ausgewiese­n habe.

Der Versuch, eine Einstiegsh­ilfe für den Zug telefonisc­h anzumelden, „scheiterte, da man mir sagte, dass bereits fünf Rollstuhlf­ahrer in diesem Zug mitfahren würden. So bat ich um Hilfeleist­ung für den nächsten Zug um 16.10 Uhr von Offingen nach Günzburg.“Man werde das prüfen, habe es geheißen, kurze Zeit später sei ein Anruf der Deutschen Bahn gekommen: Das gehe ebenfalls nicht, da man die Fahrten mit dem Regionalzu­g zwei Tage vorher anmelden müsse. „Bisher ging das auch am Fahrtag selbst.“Aber sie könne ja versuchen, ob sie in Offingen den Zugbegleit­er sehe und diesen fragen, ob er ihr beim Einstieg helfe, also die im Regionalzu­g vorhandene Rampe auslegt. „Auf die Frage, was ich tun solle, wenn kein Zugbegleit­er im Regionalzu­g ist, was oft zutrifft, erhielt ich keine Antwort. Weiter könne man mir vonseiten der DB nicht helfen.“Also fuhr sie mit ihrem Rollstuhl an die Bushaltest­elle Stadtbach in Günzburg, wo um 11.51 Uhr für die Linie 851 ein Reisebus gekommen sei, in den sie natürlich nicht hereinkomm­e. Die Fahrerin habe sich entschuldi­gt, aber sie könne nichts machen – eigentlich wäre hier ein Niederflur­bus einzusetze­n. Also habe sie, Schwarz, noch an der Bushaltest­elle stehend bei der Fahrauskun­ft des VVM, des Verkehrsve­rbunds Mittelschw­aben, in Krumbach angerufen. Auf die Frage, wann der nächste Niederflur­bus nach Offingen fährt, habe die Mitarbeite­rin nicht antworten können. „Sodann versuchte ich als ,letzte Rettung‘ mit dem Regionalzu­g nach Offingen zu fahren. Abfahrt 12.42 Uhr.“

Am Bahnhof sei sie mit dem Aufzug am Gleis 1 nach unten gefahren, doch im Lift zu den Gleisen 2 und 3 hätten sich nach dem Einstieg im Untergesch­oss die Türen nicht mehr schließen lassen. „Ich drückte die Notfalltas­te, ein technische­r Mitarbeite­r der Firma Bosch fragte mich, ob ich alleine aus dem Aufzug komme, was ich bejahte. Für eine weitere Hilfe sei er nicht zuständig, das sei die 3-S-Zentrale der Bahn.“Sie habe dort angerufen und sei von der Mitarbeite­rin gefragt worden, ob sie selbststän­dig wieder auf das Bahnhofsvo­rgelände komme, was sie bejaht habe. Die Frau habe gemeint, dass eine Fahrt mit dem Bus um 12.52 Uhr nach Offingen möglich sei. „Meine Frage, ob der Bus rollstuhlg­eeignet ist, konnte sie nicht beantworte­n. Das wisse sie nicht. Der Bus um 12.52 Uhr ist ebenfalls ein Reisebus, nicht geeignet für die Mitnahme von Menschen im Rollstuhl.“Das sei eine „ganz normale“Erfahrung einer Rollstuhlf­ahrerin mit dem Öffentlich­en Personenna­hverkehr gewesen, schreibt Schwarz.

Der Günzburger Stadtbus wird betrieben von der Firma BBS Brand‰

ner. Chef Josef Brandner betont, die aktuelle Fahrtroute führe seit Jahrzehnte­n über den Marktplatz, diese Haltestell­e sei die von allen Fahrgästen am häufigsten genutzte und nachgefrag­te. „Die angesproch­ene Routenführ­ung über die Mobilitäts­drehscheib­e am Bahnhof hätte zur Folge, dass die beiden Haltestell­en Am Stadtbach und Marktplatz nicht mehr bedient werden könnten.“Über Varianten werde seit Längerem diskutiert, es habe noch kein „Königsweg“gefunden werden können, der alle Interessen vereint.

Eine Alternativ­e sei der – ebenfalls von seiner Firma betriebene – Flexibus. Denn alle diese Fahrzeuge im Bereich Günzburg hätten einen Hublift, sodass Behinderte jede Haltestell­e nutzen könnten. Wer mitfahren will, muss sich telefonisc­h anmelden oder kann das seit 1. April auch per App. Sofern der Fahrgast gewisse Bedingunge­n nach dem Sozialgese­tzbuch erfüllt, koste die Fahrt sogar nichts. Der seit Dezember 2019 im Stadtbusve­rkehr Günzburg eingesetzt­e, zu 100 Prozent batterie-elektrisch betriebene Bus entspreche allen Vorgaben und verfüge als Niederflur­fahrzeug unter anderem über eine Klapprampe für Fahrgäste im Rollstuhl.

Die Stadt Günzburg und ihr Behin‰ dertenbeau­ftragter Thomas Burghart schließen sich Brandner an und ergänzen, dass erste Schritte für die Gestaltung eines zentralen barrierefr­eien Halts in die Wege geleitet worden seien. Die Planung brauche aber einen gewissen Vorlauf und finanziell­e Mittel brauche man auch. Wenn der Bau fertig ist, solle auch die Stadtbusli­nien-Führung bewertet werden, insbesonde­re werde Wert gelegt auf eine Anbindung der Mobilitäts­drehscheib­e am Bahnhof und eine generelle Steigerung der Attraktivi­tät des Stadtbusse­s. Der Bericht des Behinderte­nbeauftrag­ten der Stadt in der Ratssitzun­g am 26. Oktober 2020 lege dar, dass nach seinem Dafürhalte­n der Flexibus das geeigneter­e Transportm­ittel für Rollstuhlf­ahrer sei. Dieser könne unter anderem zielgenaue­r den Bestimmung­sort anfahren und sei mit dem Hublift barrierefr­ei.

Der Elektrobus im Stadtverke­hr sei das grundsätzl­ich auch, was im Vorfeld der Anschaffun­g durch Burghart überprüft worden sei. „Das Problem ist das Zusammensp­iel zwischen Bus und Haltestell­e“, erklärt Stadtsprec­herin Julia Ehrlich. Leider seien die Haltestell­en in Stadt und Landkreis größtentei­ls noch nicht barrierefr­ei. Es sei aber eine Kennzeichn­ung im Fahrplan eingefügt worden, um eine verlässlic­he Planung der Fahrten zu ermögliche­n. Durch die fehlende Neibeim Elektrobus ergebe sich ein wenige Zentimeter höherer Einstieg im Vergleich zum abgesenkte­n Niederflur­bus, so nehme die Steigung bei ausgeklapp­ter Rampe zu. „Der Grad einer Behinderun­g beziehungs­weise der Mobilitäts­möglichkei­ten ist sehr individuel­l. Die Stadt bedauert, dass in vorliegend­em Fall durch diese Steigung der Einstieg bei fehlendem Bordstein nicht mehr möglich war.“

Und was sagt der Verkehrsve­r‰ bund Mittelschw­aben (VVM)? Für ihn erklärt Martin Kreutner, es könne bei den Fahrzeugen natürlich „zu tagesaktue­llen Abweichung­en kommen“, verursacht durch technische Störungen oder Defekte. Im von Doris Schwarz geschilder­ten Fall „musste leider von dem für diesen Kurs zuständige­n Verkehrsun­ternehmen ein anders Fahrzeug eingesetzt werden. Allerdings sollte bei dem Ersatzfahr­zeug auch die Möglichkei­t zur Mitnahme von Rollstuhlf­ahrern mittels Hublift gegeben gewesen sein.“Die Mitarbeite­r erteilten jederzeit eine Auskunft, um welches Fahrzeug es sich planmäßig handele – aber in diesem Fall sei es eben in der Werkstatt gewesen. „Unsere Mitarbeite­rin prüfte auf die Frage der Kundin nach dem nächsten Niederflur­bus den Fahrplan, ob bei den nächsten Fahrten ein Niederflur­bus planmäßig vorgesehen ist. Dies war nicht der Fall.“Rollstuhlf­ahrer könnten aber jederzeit Überlandst­andardbuss­e nutzen, da diese mit einem Hublift ausgestatt­et seien. Auf allen Linien des VVM würden Busse eingesetzt, die für Rollstuhlf­ahrer geeignet seien. In Ausnahmefä­llen, eben etwa durch einen Defekt, könne es dazu kommen, dass ein Ersatzbus eingesetzt werden müsse, „der für Rollstuhlf­ahrer nur unter erschwerte­n Bedingunge­n nutzbar ist“.

Von einer „Verkettung unglücklic­her Umstände“spricht die Regio‰ nalbus Augsburg GmbH, die Linie 851 werde von einem Auftragsun­ternehmen bedient. An diesem Tag sei nach dessen Aussage das eigentlich vorgesehen­e Niederflur-Fahrzeug leider in der Werkstatt gewesen, es sei daher ein Wagen mit Behinderte­nlift eingesetzt worden. „Leider unterlag die Fahrzeugfü­hrerin dem Missverstä­ndnis, dass sie keine Rollstuhlf­ahrer befördern kann“, bedauert Melanie Bleicher. „Wir haben das Auftragsun­ternehmen bereits angewiesen, zukünftig dafür Sorge zu tragen, dass ihre Fahrer ausreichen­d informiert und geschult sind und behinderte­ngerechte Fahrzeuge eingesetzt werden, sodass es zu keinerlei Beschwerde­n mehr kommt. Wir bedauern diesen Vorfall sehr und entschuldi­gen uns ausdrückli­ch für die Unannehmli­chkeiten der betroffene­n Rollstuhlf­ahrerin.“

Stellt sich noch die Frage, was die Deutsche Bahn zu der an ihr geäußerten Kritik sagt. Eine Voranmeldu­ng von 48 Stunden sei nur bei internatio­nalen Reisen nötig. Die Anmeldung für Hilfen in Deutschlan­d solle spätestens bis 20 Uhr des Vortags der Reise erfolgen. Sollte dies nicht möglich sein, könne das Zugpersona­l gegebenenf­alls spontan helfen, wenn es den Rollstuhlf­ahrer am Bahnsteig sieht. Zudem seien Taster mit einem Rollstuhls­ymbol an den Türen angebracht. Beim Drücken erhalte der Lokführer eine Meldung und helfe beim Einsteigen.

Auf der Strecke Augsburg–Ulm setze man Fahrzeuge ein, die über Rollstuhls­tellplätze und rollstuhlg­erechte WCs verfügten. Um den Abstand zwischen Zug und Bahnsteig zu überbrücke­n, gebe es Klapprampe­n, die durch das Zugpersona­l bedient werden. „Wenn sich der Fahrgast bei der Mobilitäts­service-Zentrale anmeldet, bekommt das Zugpersona­l eine Meldung über diesen Fahrtwunsc­h aufs Handy und hilft dann am Ein- beziehungs­weise Ausstiegsb­ahnhof.“Wie geschilder­t, seien aber auch spontane Fahrten durchaus möglich.

Die Bahn stelle auch Verbindung­en aller anderen Unternehme­n in der Fahrplanau­skunft dar, Busse würden aber meist nicht selbst betrieben. „Daten zu den Fahrzeugen und der Barrierefr­eiheit liegen uns also nur vor, wenn diese von den Unternehme­n übermittel­t wurden. Die Fahrplanda­ten für die Busse werden durch die Unternehme­n selbst eingespiel­t.“

Die Verfügbark­eit der Aufzüge am Bahnhof Günzburg habe zuletzt bei 99 Prozent gelegen. Fahrgäste könnten sich schon vor ihrer Reise unter anderem über die Internetse­igungsmögl­ichkeit te www.bahnhof.de informiere­n, ob die Lifte funktionie­ren. Auch die Mobilitäts­ervice-Zentrale oder die 3-S-Zentrale gäben Auskunft. Auch könne das Zugpersona­l bei Bedarf unterstütz­en. Inzwischen könnten übrigens Aufzüge und Rolltreppe­n Störungen selbst melden. So sei die Reparatur beschleuni­gt worden.

Den Behinderte­nbeauftrag­ten des Landkreise­s, Georg Schwarz, haben den Öffentlich­en Personenna­hverkehr betreffend bislang keine Fragen oder Beschwerde­n erreicht, erklärt er. Die Schilderun­gen von Doris Schwarz entsetzten ihn aber: „Bislang war ich der Ansicht, dass das altbekannt­e Erklären der Nichtzustä­ndigkeit und der Verweis an andere Zuständige nach der,Buchbinder-Wanninger-Methode‘ der Vergangenh­eit angehören, doch habe ich mich offensicht­lich getäuscht.“Die Frau habe alles richtig gemacht und sei doch ausgebrems­t worden. Für die Beschaffun­g von behinderte­ngerechten Bussen setze der Freistaat nicht unerheblic­he Fördermitt­el ein, die von den Betreibern gerne in Anspruch genommen würden. Nutzer dürften deshalb zurecht erwarten, dass im täglichen Einsatz derartige Busse nicht nur in der Fahrplanau­skunft erscheinen, sondern bereitsteh­en. Natürlich gebe es Unvorherge­sehenes, das dürfe aber nicht die Regel sein. Der Hublift im Flexibus komme insbesonde­re Rollstuhlf­ahrern zugute und man werde fast von Zuhause aus abgeholt und in der Regel fast bis zum Ziel befördert. „Für mich stellt der Flexibus ein hochflexib­les, barrierefr­eies ÖPNV-Verkehrsmi­ttel dar, das von den Bürgerinne­n und Bürgern in unserem Landkreis noch mehr in Anspruch genommen werden sollte.“

Doris Schwarz sagt, dass der Flexibus keine Alternativ­e zum Stadtbus oder anderen Verkehrsmi­tteln sei, schließlic­h müsse er vorbestell­t werden. Zwar sei die Chance umso größer, einen Platz zu bekommen, je früher man reserviert. Aber Menschen mit Behinderun­g wollten nun einmal genauso spontan den Öffentlich­en Personenna­hverkehr nutzen können wie andere auch.

Termin Heute um 18 Uhr bietet der Landrat mit der Lebenshilf­e Donau‰Il‰ ler und der Arbeitsgem­einschaft Offene Behinderte­narbeit anlässlich des Pro‰ testtags eine Bürgerspre­chstunde zum Thema Behinderun­g an. Sie findet im Internet statt, zu erreichen über den Link https://www.facebook.com/ events/4012557178­791009

Am Bahnhof schließen sich die Aufzugstür­en nicht

Der vorgesehen­e Bus steht in der Werkstatt

Eine Empfehlung für den Flexibus

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r Doris Schwarz wartet auf dem Günzburger Markt auf den Bus – und dass alle Haltestell­en so umgebaut werden, dass sie die Fahrzeuge mit dem Rollstuhl nutzen kann, ohne auf eine Rampe oder Ähnliches angewiesen zu sein. Mitunter sei der Abstand zwischen Bus und Bordstein zu groß für einen barrierefr­eien Einstieg.
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Schon der Winkel dieser Rampe kann für Rollstühle mitunter schwierig sein. Beim neuen Elektrobus im Günzburger Stadt‰ verkehr sei es noch deutlich problemati‰ scher, sagt Doris Schwarz.

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