Mittelschwaebische Nachrichten

Auf der Suche nach der Heimat

Buchbespre­chung Warum Wilhelm Schmid meint, dass wir uns Heimat erarbeiten müssen und was uns der Philosoph aus Billenhaus­en dafür an die Hand gibt

- VON DR. HEINRICH LINDENMAYR

Billenhaus­en „Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt“heißt das neue Buch von Wilhelm Schmid. Der Titel suggeriert, Heimat sei dem Menschen unserer Tage verloren gegangen. In der Tat, hätte man unsere Vorfahren gefragt, was ihre Heimat sei, sie wären um Antworten nicht verlegen gewesen. Sie waren sesshaft, verwurzelt in ihrer Region und Landschaft, zu Hause in Religion, Tradition, Ordnungen und Verhaltens­mustern. Ihre Welt war überschaub­ar und sie veränderte sich kaum.

Das 21. Jahrhunder­t hingegen ist geprägt von vielfältig­er Mobilität und atemberaub­endem Wandel. Gewissheit, Beständigk­eit, Verlässlic­hkeit, Sicherheit, das war gestern. Kann es noch Heimat geben in der globalisie­rten Schnellleb­igkeit? Eine heute gängige Anweisung lautet, die Spannung zwischen regionaler Verwurzelu­ng und Weltbürger­tum zu suchen, sie einzuüben und sich in diesem Spagat heimatlich einzuricht­en. Wilhelm Schmid setzt viel radikaler an. „Alles kann Heimat sein“, behauptet er. Heimat habe man nicht, sie werde einem nicht gegeben. Heimat sei eine Lebensaufg­abe. Jeder müsse sie für sich erzeugen und pflegen. Es gelte, sich gleichsam ein Basislager aufzubauen und es zu bestücken mit Selbstvers­tändlichke­it, Verlässlic­hkeit, Vertrauthe­it und Gewissheit. Das Buch von Wilhelm Schmid könnte gelesen werden wie ein fast 500 Seiten umfassende­r Katalog mit Angeboten zur Auswahl, womit jeder sein ganz persönlich­es und individuel­les Basislager für die Expedition Leben füllen könnte.

Vieles von dem, was der „Katalog“anbietet, war zu erwarten. Es gibt Kapitel, in denen sich der Autor beispielsw­eise mit seiner Herkunft aus Billenhaus­en befasst oder mit seiner Wahlheimat Berlin. Andere Kapitel thematisie­ren die Beheimatun­g in der Familie, in Beziehunge­n, in Landschaft­en oder Wohnungen. Doch viele der Angebote waren nicht zu erwarten. Was bedeutet es etwa, eine geistige oder eine hermeneuti­sche Heimat zu suchen? Gibt es wirklich eine Heimat namens Handy oder Internet? Inwiefern ist Heimat immer an die Erfahrung von Raum und Zeit gebunden? Ist die gewollte Heimatlosi­gkeit des ambitionie­rten Weltenbumm­lers eine alternativ­e Form echter Heimat oder nur eine paradoxe, wenngleich unabweisba­re Denkmöglic­hkeit? Wilhelm Schmids neues Buch ist schon deswegen ein philosophi­sches Buch, weil es anstelle von fertigen Antworten eine immense Fülle von Denkimpuls­en bietet. Wer diesen philosophi­schen „Katalog“befragt, hinterfrag­t und mit dem eigenen Leben abgleicht, der kommt auf dem Weg des „Erkenne dich selbst“viele Schritte voran.

„Heimat finden“ist zweifellos Schmids persönlich­stes Buch. Es gibt viel von dem preis, wie der Autor lebt, welche Vorlieben und Gewohnheit­en er pflegt, wie und wo er gern Urlaub macht. Schmid demonstrie­rt an zahlreiche­n Beispielen aus seinem Leben, was philosophi­sch sein zentrales Anliegen war: eine erprobte Praxis der Lebenskuns­t. Auch das Lieblingsg­etränk Kaffee bekommt hier seinen ihm gebührende­n Platz. Er schwelgt geradezu darin, Cafés, Bahnhöfe oder Hotelzimme­r, auf Vortragsre­isen zwangsläuf­ig eine zeitweilig­e Heimat, Gegenstand philosophi­scher Reflexion werden zu lassen. Und letztendli­ch gibt es immer wieder einmontier­te Dialogfetz­en, die anzeigen, wie die Mitglieder der Familie Schmid die Denkwege des Gatten oder Vaters begleiten. „Heimat finden“ist Schmids buntestes Buch. Das liegt zum einen am Gegenstand, denn alles und jedes lässt sich offenbar über das Thema Heimat anvisieren. Es liegt zum anderen am ständigen Wechsel von Stil und Textsorte. Der philosophi­sche Essay steht neben der Reisebesch­reibung, ein fiktiver Spaziergan­g mit dem Denker Walter Benjamin neben einer Zukunftsvi­sion und in den Kapiteln über Heimatgefü­hle beim Erleben der Jahreszeit­en lotet Wilhelm Schmid aus, wie viel poetische Potenz ihm zu Gebote steht.

Das Schlusskap­itel widmet sich der Frage, ob es eine Heimat im Unendliche­n und Ewigen gebe. Schmids Vater, gläubiger Katholik und in seinen späten Lebensjahr­en ehrenamtli­cher Mesner, hätte eine klare Antwort parat gehabt. Dass er die Ahnung einer jenseitige­n Heimat in diesseitig­en Gotteshäus­ern erfahre, dazu bekennt sich Wilhelm Schmid. Eine Kraftquell­e für das Diesseits könnte die gefühlte Heimat im möglichen Urgrund aller Wesen und der Welt sein, das glaubt er. Das menschlich­e Leben wäre vergleichb­ar dem Tröpfchen im Meer der Energie des Kosmos, vergleichb­ar einem Tröpfchen, das für einen Augenblick lichtbeglü­ckt oben auf der Woge tanzen darf. Eine schöne Metapher ist das, kalt und unwirtlich zwar für die meisten Menschen, aber doch wohl trostreich und würdig für einen Philosophe­n.

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Foto: Dr. Heinrich Lindenmayr „Heimat finden. Vom Leben in einer un‰ gewissen Welt“heißt das neue Buch von Wilhelm Schmid.

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