Mittelschwaebische Nachrichten
Auf der Suche nach der Heimat
Buchbesprechung Warum Wilhelm Schmid meint, dass wir uns Heimat erarbeiten müssen und was uns der Philosoph aus Billenhausen dafür an die Hand gibt
Billenhausen „Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt“heißt das neue Buch von Wilhelm Schmid. Der Titel suggeriert, Heimat sei dem Menschen unserer Tage verloren gegangen. In der Tat, hätte man unsere Vorfahren gefragt, was ihre Heimat sei, sie wären um Antworten nicht verlegen gewesen. Sie waren sesshaft, verwurzelt in ihrer Region und Landschaft, zu Hause in Religion, Tradition, Ordnungen und Verhaltensmustern. Ihre Welt war überschaubar und sie veränderte sich kaum.
Das 21. Jahrhundert hingegen ist geprägt von vielfältiger Mobilität und atemberaubendem Wandel. Gewissheit, Beständigkeit, Verlässlichkeit, Sicherheit, das war gestern. Kann es noch Heimat geben in der globalisierten Schnelllebigkeit? Eine heute gängige Anweisung lautet, die Spannung zwischen regionaler Verwurzelung und Weltbürgertum zu suchen, sie einzuüben und sich in diesem Spagat heimatlich einzurichten. Wilhelm Schmid setzt viel radikaler an. „Alles kann Heimat sein“, behauptet er. Heimat habe man nicht, sie werde einem nicht gegeben. Heimat sei eine Lebensaufgabe. Jeder müsse sie für sich erzeugen und pflegen. Es gelte, sich gleichsam ein Basislager aufzubauen und es zu bestücken mit Selbstverständlichkeit, Verlässlichkeit, Vertrautheit und Gewissheit. Das Buch von Wilhelm Schmid könnte gelesen werden wie ein fast 500 Seiten umfassender Katalog mit Angeboten zur Auswahl, womit jeder sein ganz persönliches und individuelles Basislager für die Expedition Leben füllen könnte.
Vieles von dem, was der „Katalog“anbietet, war zu erwarten. Es gibt Kapitel, in denen sich der Autor beispielsweise mit seiner Herkunft aus Billenhausen befasst oder mit seiner Wahlheimat Berlin. Andere Kapitel thematisieren die Beheimatung in der Familie, in Beziehungen, in Landschaften oder Wohnungen. Doch viele der Angebote waren nicht zu erwarten. Was bedeutet es etwa, eine geistige oder eine hermeneutische Heimat zu suchen? Gibt es wirklich eine Heimat namens Handy oder Internet? Inwiefern ist Heimat immer an die Erfahrung von Raum und Zeit gebunden? Ist die gewollte Heimatlosigkeit des ambitionierten Weltenbummlers eine alternative Form echter Heimat oder nur eine paradoxe, wenngleich unabweisbare Denkmöglichkeit? Wilhelm Schmids neues Buch ist schon deswegen ein philosophisches Buch, weil es anstelle von fertigen Antworten eine immense Fülle von Denkimpulsen bietet. Wer diesen philosophischen „Katalog“befragt, hinterfragt und mit dem eigenen Leben abgleicht, der kommt auf dem Weg des „Erkenne dich selbst“viele Schritte voran.
„Heimat finden“ist zweifellos Schmids persönlichstes Buch. Es gibt viel von dem preis, wie der Autor lebt, welche Vorlieben und Gewohnheiten er pflegt, wie und wo er gern Urlaub macht. Schmid demonstriert an zahlreichen Beispielen aus seinem Leben, was philosophisch sein zentrales Anliegen war: eine erprobte Praxis der Lebenskunst. Auch das Lieblingsgetränk Kaffee bekommt hier seinen ihm gebührenden Platz. Er schwelgt geradezu darin, Cafés, Bahnhöfe oder Hotelzimmer, auf Vortragsreisen zwangsläufig eine zeitweilige Heimat, Gegenstand philosophischer Reflexion werden zu lassen. Und letztendlich gibt es immer wieder einmontierte Dialogfetzen, die anzeigen, wie die Mitglieder der Familie Schmid die Denkwege des Gatten oder Vaters begleiten. „Heimat finden“ist Schmids buntestes Buch. Das liegt zum einen am Gegenstand, denn alles und jedes lässt sich offenbar über das Thema Heimat anvisieren. Es liegt zum anderen am ständigen Wechsel von Stil und Textsorte. Der philosophische Essay steht neben der Reisebeschreibung, ein fiktiver Spaziergang mit dem Denker Walter Benjamin neben einer Zukunftsvision und in den Kapiteln über Heimatgefühle beim Erleben der Jahreszeiten lotet Wilhelm Schmid aus, wie viel poetische Potenz ihm zu Gebote steht.
Das Schlusskapitel widmet sich der Frage, ob es eine Heimat im Unendlichen und Ewigen gebe. Schmids Vater, gläubiger Katholik und in seinen späten Lebensjahren ehrenamtlicher Mesner, hätte eine klare Antwort parat gehabt. Dass er die Ahnung einer jenseitigen Heimat in diesseitigen Gotteshäusern erfahre, dazu bekennt sich Wilhelm Schmid. Eine Kraftquelle für das Diesseits könnte die gefühlte Heimat im möglichen Urgrund aller Wesen und der Welt sein, das glaubt er. Das menschliche Leben wäre vergleichbar dem Tröpfchen im Meer der Energie des Kosmos, vergleichbar einem Tröpfchen, das für einen Augenblick lichtbeglückt oben auf der Woge tanzen darf. Eine schöne Metapher ist das, kalt und unwirtlich zwar für die meisten Menschen, aber doch wohl trostreich und würdig für einen Philosophen.