Mittelschwaebische Nachrichten
Abschied in Amerika
Vier chaotische transatlantische Jahre sind vorbei, die Kanzlerschaft bald auch: Angela Merkels Besuch in Washington ist reich an Symbolen. Und ungewohnt offen sinniert die 67-Jährige über ihre persönliche Zukunft
Also, die Sache mit der Schärpe hätte besser laufen können. Gerade ist Angela Merkel in der renommierten Johns-Hopkins-Universität eine halbe Stunde mit Lob überschüttet und mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden. Nun soll sie die Schärpe zum goldschwarzen Talar anlegen. Der Dekan übergibt das Tuch als zusammengefaltetes Paket... und das Unglück nimmt seinen Lauf. Ratlos zieht die Kanzlerin den Stoff auseinander, sucht oben und unten, dreht ihn mehrmals und wirft ihn sich schließlich beherzt über den Kopf. Das Ganze sieht nun aus wie eine Kranzschleife, was dem Dekan missfällt. Also zerrt er die Stola zurück über Merkels Kopf. Nun ist die Frisur hin und das Ergebnis wirkt kaum ansehnlicher. Am Ende hängt die Schärpe schräg über der Kanzlerinnenschulter wie das Handtuch eines Boxers nach dem Kampf.
Es ist Merkels 18. Ehrendoktorwürde, doch so etwas ist der Politikerin, die an diesem Samstag 67 Jahre alt wird, noch nicht passiert. Es wirkt fast beruhigend, dass es nach 16 Jahren Kanzlerschaft noch überraschende Momente geben kann. Aber dieser USA-Trip ist auch nicht irgendeine Reise. Es ist der Antrittsbesuch bei einem neuen Präsidenten nach vier Jahren transatlantischer Verstimmungen. Und es ist zugleich der Abschiedsbesuch der Ostdeutschen im Sehnsuchtsland ihrer Jugend.
Merkel ist keine Freundin öffentlicher Emotionen. Wer sie nach ihren Gefühlen vor der Begegnung mit Präsident Joe Biden fragte, hörte Antworten wie: „Wir haben eine lange Agenda.“Was ja stimmte. In den vier Trump-Jahren hatte sich allerhand aufgestaut. Und mit der Corona-Pandemie, den russischen Cyberattacken, dem selbstbewussten Auftreten Chinas und dem Rückzug der westlichen Truppen aus Afghanistan war noch mehr hinzugekommen.
Als die Kanzlerin im April 2018 das letzte Mal in Washington landete, hatte es sie noch spontan zum Cheeseburger-Essen in die belebte M Street gezogen. Von Passanten wurde sie wie ein Rockstar gefeiert. Tags darauf traf sie einen Präsidenten, der Deutschland zum Lieblingsfeind auserkoren hatte und die Begegnung nutzte, um sich und sein übergroßes Ego zu präsentieren.
Dieses Mal ist vieles anders. Ein Kneipenbummel verbietet sich weMerkels strikter Corona-Vorsicht, die in der durchgeimpften USHauptstadt leicht anachronistisch wirkt. In der Innenstadt haben sich ein paar Menschen versammelt – nicht zum Jubeln, sondern zum Protest gegen Merkels Eintreten für Covid-Impfpatente. Hingegen erwartet sie im Weißen Haus ein überaus freundlicher Empfang. Als „großartige Freundin“begrüßt der Hausherr die Deutsche und preist später ihre „prinzipientreue, starke Führung“. Vier Präsidenten habe Merkel erlebt. „Sie kennt das Oval Office so gut wie ich“, scherzt Biden und umreißt die Dimension ihrer Regentschaft als erste Frau und erste Ostdeutsche im Kanzleramt und nach Helmut Kohl nun Regierungschefin mit der längsten Amtszeit.
Ein Novum hat auch Kamala Harris als erste Vizepräsidentin geschafft. Und so hat es eine gewisse Logik, dass Merkel zuvor von Bidens Stellvertreterin zum Frühstück empfangen wird. Beide Frauen teilen in den USA auch ein anderes Schicksal:
Sie wurden wegen ihrer Andersartigkeit in den Trump-Jahren zu Projektionsfiguren des linksliberalen Amerikas. Die eine schien als schwarze Tochter einer Inderin und eines Jamaikaners das Gegenbild zu einem rassistischen alten weißen Mann abzugeben, die andere wurde zur Retterin der freien Welt überhöht.
Das ließ sich 2019 beobachten, als Merkel im dritten Trump-Jahr einen Bogen um Washington machte und an der Eliteuniversität Harvard eine Ehrendoktorwürde entgegennahm. Die Preisrede kam einer Heiligsprechung ziemlich nahe und lobte die Kanzlerin für Errungenschaften wie die Ehe für alle und den Mindestlohn, die tatsächlich gegen ihren Widerstand vom sozialdemokratischen Koalitionspartner durchgesetzt wurden. Doch schmälern solche Überzeichnungen diese Kanzlerschaft kaum. Bei Harris aber, die politisch bisher wenig vorweisen kann, hat in der US-Öffentlichkeit ein Ernüchterungsprozess eingesetzt. Das Foto mit dem Gast ist für die Amerikanegen rin wohl wichtiger als umgekehrt. Ohnehin spielt Symbolik eine große Rolle bei dieser Visite.
Nach den Trump-Jahren wollen beide Seiten die transatlantischen Beziehungen neu beleben, gemeinsame Werte präsenter machen. Demonstrativ hat Biden die Kanzlerin und ihren Ehemann Joachim Sauer zu einem Dinner mit knusprigem Seebarsch und schwarzen Tagliatelle eingeladen. Das Vier-Augen-Gespräch davor dauert statt angesetzter 20 Minuten weit länger als eine Stunde. Danach kommen Berater und Experten hinzu. Bei der Pressekonferenz im East Room hat man das Gefühl, dass die sonst so nüchterne Naturwissenschaftlerin und der „liebe Joe“sich wirklich verstehen.
„Ich schätze die Freundschaft sehr, ich weiß, was Amerika für die Geschichte eines freien und demokratischen Deutschlands getan hat“, sagt Merkel. Das heißt nicht, dass sich die Regierungschefs bei allen Themen einig wären. Biden sieht China als gefährlichen politischen
Gegenspieler, Merkel mehr als wirtschaftlichen Wettbewerber. Bei der umstrittenen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 bemüht man sich hinter den Kulissen zwar fieberhaft um eine Entspannung, aber ein Kompromiss steht aus. „Meine Haltung ist klar“, sagt Biden. Und: „Gute Freunde können auch unterschiedlicher Meinung sein.“Merkel betont, dass Deutschland den Status der Ukraine als Gas-Transitland erhalten wolle. Auf die Frage, was passiere, sollte Russland die Pipeline nutzen, um Kiew auszuhungern, gibt sie eine ziemlich merkelhafte Antwort, nach der sich „die Möglichkeiten der Reaktion (...) zum entsprechenden Zeitpunkt herausstellen“werden.
Einen Teilerfolg kann die Kanzlerin erzielen. Sie spricht die unverändert geltende Einreisesperre der USA für Besucher aus Europa an, die nicht nur ungerecht erscheint, weil geimpfte US-Bürger wieder ohne Probleme über den Atlantik fliegen können, sondern auch gesundheitspolitisch fragwürdig, weil man sie durch einen Zwischenstopp im Risikogebiet Türkei umgehen kann. Bisher blockte das Weiße Haus ab. Doch nun zieht Biden seinen Corona-Beauftragten hinzu und verspricht eine zeitnahe Entscheidung.
Welche Erfahrungen hat Merkel denn nun mit den unterschiedlichen Präsidenten gemacht? Die Kanzlerin mag nicht allzu viel von sich preisgeben. Erstens müsse Deutschland aus eigenem Interesse mit jedem Präsidenten zusammenarbeiten. Zweitens hätten sich die Journalisten bei Pressekonferenzen selbst ein Bild machen können und „drittens war das heute ein sehr freundlicher Austausch“.
Im Vergleich dazu wirkt die Norddeutsche geradezu geschwätzig, als sie in der Johns-HopkinsUniversität nach ihren Plänen für die Zeit nach dem Amt gefragt wird. „Wahrscheinlich werden mir gewohnheitsmäßig viele Gedanken in den Kopf kommen, was ich jetzt machen müsste“, sinniert sie da: „Und dann wird mir ganz schnell einfallen, dass das jetzt ein anderer macht. Ich glaube, das wird mir gut gefallen.“Eine Pause wolle sie einlegen und mehr lesen: „Und dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, und dann werde ich ein bisschen schlafen.“Fast poetisch klingt diese Schilderung, die Merkel mit einem spitzbübischen Lächeln beendet: „Und dann schauen wir mal, wo ich auftauche.“Vielleicht an einer Universität in Amerika?