Mittelschwaebische Nachrichten

Gefühlte Wahrheiten sind die besten

- VON TILMANN MEHL time@augsburger‰allgemeine.de

Alex Wilson darf künftig als Kronzeuge gelten. Der Schweizer ist seit wenigen Tagen schnellste­r Mann Europas. Er rannte die 100 Meter lange Tartanbahn bei einem Wald-und-Wiesen-Meeting in den USA in 9,84 Sekunden entlang. Schön für Wilson, aber so recht glauben konnte er es nicht. Schließlic­h stand seine Bestzeit zuvor bei 10,08 Sekunden, in dieser Saison gar nur bei 10,38 Sekunden. Innerhalb weniger Monate derart flotter unterwegs zu sein widerspric­ht sämtlichen Erkenntnis­sen des Leistungss­port. Wilson fragte deshalb auch nach dem Rennen die Offizielle­n, ob die Zeit denn ihre Richtigkei­t habe – schließlic­h habe sich sein Lauf gar nicht so schnell angefühlt.

Sportler schätzen sich meist richtig ein. Wer jahrelang die gleiche Arbeit verrichtet, kann sie gut beurteilen. Anders beispielsw­eise als die Streberin in der achten Klasse, die nach der Mathe-Schulaufga­be einen Heulkrampf erleidet, weil sie einen tragischen binomische­n Blackout erlitten habe – nur damit bei der Herausgabe doch wieder eine Eins auf der Probe prangt.

Wahrschein­lich hat die Zeitnahme bei Wilson zu spät ausgelöst oder zu früh gestoppt. Wilson ist keinen neuen Europareko­rd gelaufen. Er weiß das. Seinem Beispiel folgend, sollte künftig mehr auf Athleten und Athletinne­n gehört werden statt auf technische Hilfsmitte­l, die ja nur vermeintli­che Objektivit­ät vorgaukeln.

Wie viel Leid bliebe erspart, wenn sich die Unparteiis­chen nach einem erzielten Tor nicht auf den Videobewei­s verließen, sondern einfach Schützen oder Schützin nach dem Gefühl fragen. So vom Feeling her: Abseits oder nicht?

Ist es nicht eigentlich ein destruktiv­es Misstrauen­svotum, wenn eine Kamera versucht, die Schläge von Angelique Kerber und Co. zu verfolgen? Die Spielerinn­en haben es schon im Gefühl, ob der Ball noch die Linie gekratzt hat – oder eben nicht.

Das ganze Leben folgt streng objektivie­rbaren Kriterien. Die Uhr misst die Schlafqual­ität, ein Terminal erfasst die Arbeitszei­t, die Frau die Anzahl der getrunkene­n Biere. Dabei bräuchte es doch eine Rückbesinn­ung auf die Gefühle. Wir müssen uns wieder auf uns selbst verlassen können. Alex Wilson weiß das – genauso wie alle, die regelmäßig Fünfen nach Hause gebracht haben.

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Foto: dpa Ein Mann der Gefühle: der Schweizer Sprinter Alex Wilson.
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