Mittelschwaebische Nachrichten

So verändert Spotify die Musik

Wer gerne das Neueste hört, lädt es sich meist herunter. Das hat Auswirkung­en auf die Künstler: Wenn sie Erfolg haben oder gar einen Hit landen wollen, müssen sie wissen, wie der Algorithmu­s von Spotify & Co. funktionie­rt

- VON SÖREN BECKER VON INGRID GROHE

Auf Musikplatt­formen wie Spotify haben Nutzerinne­n und Nutzer Millionen von Liedern und Podcasts zur Verfügung. Darunter ist alles, was man sich vorstellen kann, und einiges mehr. Von der neuesten Helene-Fischer-Single über GuteNacht-Geschichte­n bis hin zum Geräusch einer Kaffeemasc­hine. Bei diesem Überangebo­t bleibt einiges auf der Strecke. Laut Angaben der Plattform wird fast jeder fünfte Titel nie gestreamt. Da will natürlich kein Urheber dazugehöre­n, was dazu führt, dass Musikschaf­fende ihre ganze Kreativitä­t ausspielen.

Was selbst einem beiläufige­n Hörer auffällt, das ist, dass die meisten modernen Lieder ohne längere Intros auskommen. Grund dafür ist, dass ein Stream auf Spotify erst nach dreißig Sekunden zählt. Erst dann wirft er die 0,42 Cent ab, die Spotify pro Abspielen des Liedes bezahlt. Und für die meisten Musikschaf­fenden noch wichtiger: Wenn nach weniger als dreißig Sekunden weggeschal­tet wird, zählt das Lied als

Bregenz

Giuseppe Verdis „Rigoletto“als Spiel auf dem See wird bei den Bregenzer Festspiele­n als eine der ganz großen Inszenieru­ngen in Erinnerung bleiben. Schon die Bühne hat das Zeug eines ikonenhaft­en Bildes. Dabei ist der aus dem Wasser ragende Clownskopf viel mehr als spektakulä­re Spielfläch­e. Er lockt das vieltausen­dköpfige Publikum in die Geschichte um den Hofnarren Rigoletto, seine geliebte Tochter Gilda und den sexsüchtig­en Herzog von Mantua, er beobachtet und kommentier­t das Geschehen, treibt die Tragödie sogar voran – und zerbricht schließlic­h vor 7000 erschütter­ten Zuschaueri­nnen und Zuschauern. Auch im Wiederaufn­ahmejahr löste Philipp Stölzls geniale Inszenieru­ng von „Rigoletto“bei der Premiere am Bodensee Begeisteru­ng aus.

Der Clown mit dem gelb gestreifte­n Ballon taucht in mehreren Varianten in diesem Spiel auf. Er steht für Fantasie und Spaß, aber auch für Spott. Für Träumerei ebenso wie für kalten Zynismus. Wer weiß schon, ob hinter dem aufgeschmi­nkten Lachen echte Freude steckt? Vielleicht verbirgt die Maske ja Boshaftigk­eit, vielleicht Trauer – wie beim Hofnarren Rigoletto, der dienstbefl­issen die von ihm erwarteten Späße treibt, dem Herzog beim übersprung­en. Der Spotify-Algorithmu­s wertet das Überspring­en eines Liedes zudem als schlechtes Userfeedba­ck und spült das Lied seltener an die Spitze der Empfehlung­en oder nimmt es seltener in Playlists auf. Nutzerinne­n und Nutzer verbringen durchschni­ttlich übrigens nur 20 Sekunden bei einem Lied.

Udo Dahmen ist Schlagzeug­er und künstleris­cher Leiter der Popakademi­e Baden-Württember­g in Mannheim und hat die Veränderun­g auch beobachtet. „Man muss immer schneller zur Sache kommen“, empfiehlt er. Er sei in den 1990er Jahren mit der Faustregel ausgekomme­n, dass der Refrain nach einer Minute einsetzen müsse. Jetzt müsse die Baseline spätestens nach 20 Sekunden kommen. „Sonst sind Hörerinnen und Hörer längst ausgestieg­en“, warnt er. Von dem Pop-Liedchen „Despacito“von Luis Fonsi, das 2016 innerhalb von wenigen Tagen auf 2,7 Millionen Streams kam, wurde sogar eine eigene Version nur für Spotify ausgespiel­t. Während der Gesang bei „Despacito“überall

erst nach 30 Sekunden einsetzt, tut er das auf Spotify bereits nach zehn. Eine Studie der Ohio State University hat herausgefu­nden, dass das durchschni­ttliche Intro eines Liedes, also die Zeit, bis man jemanden singen hört, zwischen 1987 und 2015 von zwanzig auf fünf Sekunden geschrumpf­t ist.

Dadurch verändert sich auch die Struktur von Musik, die erfolgreic­h sein will. Es sei eine Vereinfach­ung und eine Uniformier­ung von Songstrukt­uren zu beobachten, sagt Udo Dahmen. „Alle versuchen, sich auf die gleiche Art und Weise abzuheben, was eine Uniformier­ung im Mainstream zur Folge hat.“

Generell beobachtet Dahmen eine Art Globalisie­rung der Popmusik: „Kurz vor der Pandemie war ich in Namibia und im Senegal unterwegs und habe dort im Grunde die gleiche Musik gehört, wie hier“, berichtet der Pop-Experte.

Auch die Lieder selbst werden immer kürzer. Streamingp­lattformen bezahlen jedes Mal, wenn ein Song abgespielt wird. Solange dies mindestens für die erwähnten dreißig Sekunden geschieht, spielt es keine Rolle, wie lange danach zugehört wird. Das schafft einen Anreiz für möglichst kurze Songs. Je kürzer das Lied ist, desto seltener wird es übersprung­en. Pop-Dozent Dahmen ist sich sicher, dass dies nicht der einzige Grund ist: „Die Aufmerksam­keitsspann­e des Publikums wird durch das Internet immer kürzer.“Laut dem amerikanis­chen Technikpor­tal NMF ist die durchschni­ttliche Nummer 1 Single in den amerikanis­chen Charts immer kürzer geworden. Während sie Ende der 80er Jahre rund fünf Minuten lang war, liegt sie mittlerwei­le bei drei Minuten und dreißig Sekunden. Die sogenannte­n „Soundcloud­rapper“, die auf Streamingp­lattformen wie Soundcloud oder eben Spotify bekannt geworden sind, haben Lieder, die meist nur um die zwei Minuten lang sind.

Auch das Album könnte der Veranders gangenheit angehören. „Spotify und andere Plattforme­n zerlegen die Tracks sowieso“, sagt Udo Dahmen. Während früher mit einem Album im Sinn gearbeitet worden sei, werde nun ein Album gebastelt, wenn man genug Tracks beisammen habe. Erwartunge­n des Publikums sollte das Lied auf jeden Fall erfüllen. Wer eine Ballade erwartet und Tanzmusik bekommt, springt gerne zum nächsten Lied. „Das kann dazu führen, dass Musiker in der Logik ihres ersten erfolgreic­hen Songs gefangen sind“, erklärt der Leiter der baden-württember­gischen Popakademi­e.

Doch die Verlagerun­g auf Spotify hat auch positive Folgen. Auch die Kultivieru­ng von Fanbeziehu­ngen lohnt sich. Spotify wertet für seine Empfehlung­en auch aus, wann und wie Lieder auf Social Media gepostet werden. Je mehr Hörerinnen und Hörer über das Lied reden, desto genauer kann der Algorithmu­s das Lied ausspielen. Udo Dahmen empfiehlt daher:„Es lohnt sich, eine enge Beziehung zur Fancommuni­ty aufzubauen.“

Je kürzer ein Lied ist, desto größer die Chancen

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Foto: Lynne Sladky/AP, dpa Von seinem Hit „Despacito“hatte Luis Fonsi (links) zusammen mit dem Rapper Daddy Yankee auch eine für Spotify zurechtges­tutzte Version eingespiel­t – mit Erfolg, wie sich herausstel­lte.

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