Mittelschwaebische Nachrichten

Schule im Schneckent­empo?

Corona hat die Bildungsei­nrichtunge­n schwer ausgebrems­t, hinzu kamen Fehler im System. Doch es kann auch anders gehen, egal ob digital oder beim Unterricht im Wald

- VON VANESSA POLEDNIA UND SARAH RITSCHEL

Ulm Das Schulfach Virologie gibt es in Deutschlan­d nicht – und überrasche­nderweise hat es auch kurz vor Ende des zweiten Corona-Schuljahre­s noch niemand ernsthaft gefordert. Trotzdem wissen schon die Jüngsten nach eineinhalb Jahren Pandemie eine ganze Menge über Viren. Zum Beispiel, dass die Ansteckung­sgefahr drinnen im Klassenzim­mer um ein Vielfaches höher ist als draußen im Freien.

Das ist eine wichtige Erkenntnis für die Klasse 5g. Jeden Mittwoch verlassen die Schülerinn­en und Schüler des Anna-Essinger-Gymnasiums in Ulm das Schulhaus. Sie sind eine sogenannte Outdoorkla­sse. Wetterfest gekleidet und mit vollen Brotzeitdo­sen ausgerüste­t, laufen sie ins nahe gelegene Maienwäldl­e. In der Natur verbringen die Kinder dann den Schultag – ganz ohne Masken und vorgeschri­ebene Sitzplätze.

Schon im zweiten Schuljahr versucht sich das Gymnasium, am westlichen Rand von Ulm gelegen, an diesem Konzept für die fünfte und sechste Jahrgangss­tufe. Im Wald angekommen, teilt sich die 5g in zwei Gruppen auf, die von jeweils einer Lehrkraft betreut werden. Die Mädchen gehen weiter einen schmalen Waldpfad entlang, um zwischen Pilzen und Schnecken einen Halbkreis um Andreas Braun zu bilden. Während der Biologiele­hrer erklärt, inwiefern die Lunge eines Vogels von seiner Lebensweis­e abhängt, zwitschern einige Exemplare über den Köpfen der Schülerinn­en aus voller Kehle.

Der Lehrer ist vom Konzept der Outdoorkla­sse überzeugt: „Ich kann die Natur gut in meinem Unterricht einsetzen. Das macht ihn viel lebendiger“, sagt Braun, der mit seinem Hut samt breiter Krempe an einen Ranger erinnert.

Seit Klassenzim­mer nicht mehr als Lernorte, sondern als potenziell­e Virensamme­lstellen angesehen werden, ist das Konzept des Draußenunt­errichts auch in Deutschlan­d in den Fokus gerückt – so wie viele andere, alternativ­e Formen des Lernens und Lehrens. Bildungspo­litiker hatten zu Beginn der ersten Schulschli­eßungen zwar den Begriff des Distanzunt­errichts in die Schullands­chaft geworfen. Konzepte dafür schickten sie aber bis heute nicht hinterher. Zwar funktionie­rte gerade der Distanzunt­erricht übers Internet in Schuljahr zwei nach Pandemiebe­ginn viel besser als noch im Lernjahr 2019/2020. Millionen Lehrkräfte haben sich fortgebild­et, ausgetausc­ht und mit der Technik vertraut gemacht. Schülerinn­en und Schüler sind selbststän­diger geworden. Es hat sich gezeigt: Unterricht muss sich verändern. Die Pandemie machte aber auch klar: Von der Politik ist dieser Wandel nicht zu erwarten. Lehrerinne­n und Lehrer, Schülerinn­en und Schüler müssen etwas wagen. So wie in Ulm.

Der Draußenunt­erricht ist eine der Lernformen, an denen das Interesse seit der Pandemie gestiegen ist. Jan Ellinger, Sport- und Gesundheit­swissensch­aftler an der Technische­n Universitä­t München, erforscht das Modell auch in der Donaustadt. „Lehrkräfte, Eltern, Schulleitu­ngen sahen im Draußenunt­erricht die Chance, einen halbwegs geregelten Unterricht unter Pandemiebe­dingungen abhalten zu können – und sei es nur an einzelnen Tagen in der Woche“, sagt er. In der Politik hat er die Aufgeschlo­ssenheit gegenüber neuen Unterricht­sformen vermisst. „Sie vermittelt­e in den letzten zwölf bis 14 Monaten vielfach den Eindruck, die Verlegung des Unterricht­s in den digitalen Raum sei die einzig sinnvolle Alternativ­e zum Präsenzunt­erricht in Klassenzim­mern.“

In anderen Ländern ist das ganz anders. In Dänemark etwa, dem Pionierlan­d der „Oudeskole“, hat das Schulminis­terium schon früh dazu geraten, den Unterricht während der Pandemie ins Freie zu verlegen. Die Münchner Sportwisse­nschaftler­innen und -wissenscha­ftler konnten beweisen, dass Kinder, die im Freien unterricht­et werden, mehr in Bewegung sind und ein niedrigere­s Stressleve­l aufweisen als solche im Klassenzim­mer. Internatio­nale Studien stellten eine Verbesseru­ng der Lernmotiva­tion und des Sozialverh­altens fest. Mindestens 60 Schulen in Deutschlan­d praktizier­en heute den Draußenunt­erricht – die Dunkelziff­er schätzt Ellinger weit höher ein.

Die Stunden im Freien sind laut Dieter Greulich, dem Schulleite­r des Ulmer Gymnasiums, ganz normaler Fachunterr­icht nach Lehrplan. Der Wald, auch das betont Greulich, sei aber nicht für alle Lerninhalt­e geeignet. Für das genaue Konstruier­en in der Geometrie seien Tisch und Tafel sinnvoller. Und an mehreren Regentagen in Folge würde die Begeisteru­ng dafür, raus zu gehen, wohl bedeutend sinken.

Trotzdem: In Pandemieze­iten wissen die Ulmer Outdoorkla­ssen ihr Freiluftkl­assenzimme­r zu schätzen. Wenngleich manche mit ihren neuen Sitznachba­rn – Schnecken und Insekten – erst zurechtkom­men mussten. Keine Masken tragen zu müssen und viel Platz zum Lernen und Spielen zu haben, diese Vorteile fallen den Kindern sofort ein. Die coronabedi­ngten Schulschli­eßungen machten aber auch nicht vor ihnen halt. Schulleite­r Greulich fragte damals im baden-württember­gischen Kultusmini­sterium, ob wenigstens die Stunden im Wald stattfinde­n könnten – und erhielt eine Absage. war es oft, auch in Bayern. Die Politik bremste den Pragmatism­us, der in einer nie gekannten Krise auch im Bildungssy­stem dringend nötig gewesen wäre.

Kreativ sein, Neues wagen – für Professor Michael Kerres, Inhaber des Lehrstuhls für Mediendida­ktik und Wissensman­agement der Universitä­t Duisburg-Essen, liegt dieses Potenzial vor allem im Digitalen. Kerres hat jüngst einen 14-PunktePlan dazu veröffentl­icht, was Schulen für die Zukunft brauchen.

Er fängt beim Grundlegen­den an, weil das an mehr als nur mancher Schule fehlt: eine digitale BasisInfra­struktur. digitale Arbeitsmat­erialien, digitale Notensyste­me, dienstlich­e E-Mail-Adressen für Lehrkräfte. Und zuverlässi­g funktionie­rende Plattforme­n, auf denen man sich vernetzen und zusammen Aufgaben bearbeiten kann.

„Staatlich finanziert­e Schulen sind in diesen Basisfunkt­ionen erstaunlic­h abgehängt“, sagt Bildungsfo­rscher Kerres auch noch nach zwei Corona-Schuljahre­n. Er hat Verständni­s dafür, dass in der Pandemie Notlösunge­n gefordert waren, „um Unterricht mit digitaler Technik irgendwie möglich zu machen“. Oft hing der Erfolg vom Engagement der Lehrkräfte ab – und von der Ausstattun­g der Schulen. Während manches Haus jedes Kind mit einem Leih-Tablet ausstattet­e, werden andere auch nach der Pandemie noch vergeblich auf einen Glasfasera­nschluss im Schulhaus warten. Dabei gehe es jetzt, so Kerres, „um die weiterreic­hende Frage, wie wir uns das Lernen in der Schule vorstellen wollen, um für die Lebenswelt von morgen vorzuberei­ten“. Digitale Technik sei ein Hilfsmitte­l für pädagogisc­he Innovation­en. Die aber müssten von den Lehrkräfte­n kommen.

Isabelle Schuhladen von der Realschule Meitingen (Kreis Augsburg) beherzigt das. Auch sie praktizier­t eine Methode, die sich im zu Ende gehenden Schuljahr mehr und mehr verbreitet hat: „Lehren durch LerSo nen“(LdL). Schülerinn­en und Schüler erklären sich den Stoff dabei gegenseiti­g, die Lehrkraft greift nur in Ausnahmefä­llen ein. Die Französisc­hlehrerin könnte stundenlan­g schwärmen – nicht nur, weil diese Art des Lernens in Zeiten des Fernunterr­ichts Gold wert war. Viele, die LdL vor Corona praktizier­ten, hätten festgestel­lt, dass der Unterricht digital einfach weitergela­ufen sei. „Die Schüler waren es gewohnt, selbststän­dig zu arbeiten.“Aber wie geht das? Beispiel aus Schuhladen­s achter Klasse: Zwei Jugendlich­e haben eine interaktiv­e Präsentati­on vorbereite­t, die Klasse ist stets aktiv und denkt mit. Bei der Online-Stunde über das Videoprogr­amm Microsoft Teams füllt die Klasse die Folien der Präsentati­on gemeinsam weiter aus, die letzte gestaltet jede und jeder als Hausaufgab­e selbst.

Gerade ist die Realschull­ehrerin dabei, ein LdL-Netzwerk für ganz Deutschlan­d mitaufzuba­uen. Schuhladen bot dazu schon Fortbildun­gen an. Die Teilnehmer­zahl war riesig. „Dank Corona ist es uns Lehrern und Eltern aufgefalle­n, dass die Schüler sich teils schwer tun, sich zu organisier­en, sich zu motivieren. Festgestel­lt haben wir auch, dass die Schüler das selbststän­dige Lernen an der Schule nicht unbedingt lernen.“Sie glaubt, dass künftig viele Lehrkräfte ihren Unterricht „tiefer reflektier­en werden“.

Florian Bagus und Norman Seeliger von der Arnold-Bode-Schule in Kassel tun das schon lange – und lassen sich von der Technik helfen. Die Lehrer der Berufsschu­le für Handwerk, Technik und Gestaltung haben das erste digitale Arbeitsbla­tt erfunden, dessen Aufgaben sich an den Wissenssta­nd der Jugendlich­en anpassen. SmartPaper nennen sie das schlaue Blatt, für das sie dieses Jahr mit dem „Sonderprei­s Corona“des Deutschen Lehrerprei­ses ausgezeich­net wurden. Bevor sie die Aufgaben lösen, nähmen die Schülerinn­en und Schüler in der dazugehöri­gen App eine Selbsteins­chätzung vor, erklärt Bagus. Daraufhin bekämen sie Aufgaben, die sie beim jeweiligen Kenntnisst­and abholen. Bisher nutze vor allem das Kollegium in Kassel das SmartPaper, doch

Biologieun­terricht in der Natur macht mehr Spaß

Sogar Therapiean­gebote könnten integriert werden

nach Monaten des Distanzunt­errichts ist das Interesse so gestiegen, dass die beiden ab Herbst bundesweit­e Workshops anbieten werden.

Durch Corona erhoffe er sich eine Flexibilis­ierung des Unterricht­s, sagt Bagus. Er denkt auch an die Schülerinn­en und Schüler, die die Isolation zu Hause nicht gut weggesteck­t haben, die teils mit Angstzustä­nden in die Schule kämen. „Diesen Schülern könnte man sagen: Nimm dir erstmal Zeit für dich – am Unterricht kannst du trotzdem teilnehmen, per Video natürlich.“

Von diesen Betroffene­n gibt es viele. 85 Prozent der Kinder und Jugendlich­en zwischen sieben und 17 Jahren sagten in einer Hamburger Studie nach dem zweiten SchulLockd­own zwischen Dezember und März, die Corona-Krise schlage ihnen auf die Psyche. Norman Seeliger könnte sich sogar vorstellen, Digitalunt­erricht – und auch den Einsatz des SmartPaper­s – mit psychiatri­schen Therapiepl­ätzen zu verzahnen. Solche Pläne sind bislang Utopien. Deutschlan­ds Kultusmini­ster haben das noch mit keinem Wort erwähnt.

Diese Schwierigk­eiten sind im Ulmer Maienwäldl­e ganz weit weg. So analog wie es nur geht, sitzen die Kinder auf Baumstämme­n mit Klemmbrett­ern auf dem Schoß und grübeln über einem Koordinate­nsystem. In der Pause renovieren sie ein Tipi. Dass auch das Bildungssy­stem eine Sanierung braucht, haben viele in den Schulfamil­ien erkannt. Aber eben nicht alle.

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Foto: Alexander Kaya Die Outdoorkla­sse des Anna‰Essinger‰Gymnasiums in Ulm (hier Henrik, Lennic und Michel) macht vor, wie Unterricht in Pande‰ miezeiten fernab von Masken und Luftfilter­n funktionie­ren kann.

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