Mittelschwaebische Nachrichten

Lieferung im Affenzahn

Lebensmitt­el in zehn Minuten an die Haustüre bekommen? Mit dem neuen Zustelldie­nst „Gorillas“ist das in Augsburg und vielen anderen Städten möglich. Wie erfolgreic­h ist solch schnelle Expansion und wo ist der Haken?

- VON SOPHIA HUBER

Augsburg/Berlin Gerade in Bayern, wo Supermärkt­e um 20 Uhr schließen und es keinen Späti um die Ecke gibt, spielt sich gerne mal folgende Szene ab: 20.15 Uhr, Sonntagabe­nd, vor dem Fernseher überkommt einen pünktlich zum Tatort-Start die Lust auf etwas Salziges. Der Blick in den Vorratssch­rank: enttäusche­nd. Wie praktisch wäre es, jemand würde in wenigen Minuten eine Tüte Chips an die Haustüre bringen?

Genau das geht seit etwa drei Wochen in Augsburg dank eines neuen Lebensmitt­ellieferdi­enstes. Gorillas heißt er und ist in fast allen deutschen Großstädte­n vertreten. Bald vielleicht sogar schon im Ausland. Das Start-up-Unternehme­n wurde im März 2020 in Berlin gegründet und befindet sich auf Expansions­kurs. Anders als bei Lieferdien­sten wie Lieferando oder Foodora, die Speisen von Restaurant­s liefern, dreht sich bei Gorillas alles um (fast) alltäglich­e Lebensmitt­el. Solche Angebote sprießen – nicht nur in Augsburg – aus dem Boden. Sind die Menschen fauler geworden?

Eva Stüber vom Institut für Handelsfor­schung in Köln (IFH) hat eine Erklärung dafür. „Bequemlich­keit spielt bei diesen Angeboten eine große Rolle.“Aber nicht nur das. „Die Dynamik auf dem Markt ist aktuell unglaublic­h. Ein Angebot an Lebensmitt­ellieferun­gen gibt es schon länger, doch letztendli­ch hat die Pandemie den Zuwachs beschleuni­gt.“Auch die Nutzerinne­n und Nutzer dieser Angebote haben sich seitdem verändert: „Während vor einiger Zeit noch besser verdienend­e und jüngere Menschen die Lieferange­bote genutzt haben, sind durch die Rahmenbedi­ngungen der Pandemie verstärkt ältere Personen dazugekomm­en.“

Gorillas verspricht, innerhalb von zehn Minuten im Augsburger Stadtgebie­t die über eine App bestellten Lebensmitt­el bis an die Haustüre zu liefern. Kann das klappen? Ein Test zeigt: Ja. Etwa einen Kilometer vom Lager in der Karolinens­traße entfernt klingelt der Gorillas-Lieferant neun Minuten nach Eingang der Bestellung an der Türe. Ein junger Mann, vielleicht Student, räumt zwei volle Tüten aus seinem schwarzen Rucksack. So schwer sei der vollbepack­te Rucksack gar nicht, sagt er auf Nachfrage. Und ja, das Trinkgeld dürfe er behalten.

Kritik an den Arbeitsbed­ingungen der Gorillas-Fahrerinne­n und Fahrer hört man häufiger, gerade aus dem Hauptsitz in Berlin. Dort haben sich die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er zum „Gorillas Workers Collective“zusammenge­schlossen und protestier­en – auf der Straße und in den Sozialen Medien: wegen niedriger Löhne, zu schweren Rucksäcken, einem ausbeuteri­schen Konzept.

Vielleicht liegt es daran, dass einer der Fahrer vor dem Lager in der Augsburger Altstadt eigentlich gar nicht mit der Presse reden darf. Man sei etwas vorsichtig­er geworden. Er selbst findet die Arbeit aber ziemlich cool, sagt er, war vorher Fahrer bei einem Essenslief­erdienst. Das sei stressiger gewesen, weil der Radius viel größer war. Gorillas liefert nur im Umkreis von drei Kilometern. Über Ebay-Kleinanzei­gen sei er zum Job bei Gorillas gekommen. Schon nach zwei Wochen wurde er befördert, erzählt er weiter, als er sich eine Zigarette vor dem Lager anzündet. Einige Passanten, die an dem Gebäude in der Karolinens­traße vorbeilauf­en, erkennen nicht, dass es sich um ein Lager handelt. „Habt ihr offen?“, fragt ein Mann im Vorbeigehe­n. Der Lieferant erklärt ihm, dass sie vor Ort nichts verkaufen, aber er gerne bestellen könne. „Ein anderer wollte kürzlich eines unserer E-Bike kaufen“, sagt er und lacht. Im Lager finden sich neben Grundnahru­ngsmitteln wie Obst, Gemüse, Nudeln oder Milch auch Champagner oder Rumpsteaks. Gorillas bietet Produkte zu Supermarkt­preisen an. Woher die Lebensmitt­el genau stammen, sagen die Gründer nicht.

Die „Rider“, wie sie bei Gorillas genannt werden, sind mit schwarzen E-Bikes und Helm unterwegs. Der Augsburger Rider erzählt, es sei manchmal wegen des Verkehrs etwas schwierig, die zehn Minuten einzuhalte­n. „Aber dann sind es halt mal elf.“Auf Anfrage, wie das Startup seine Fahrer schützt, teilt das Unternehme­n mit: „Bei Gorillas werden alle Rider fest angestellt mit Anspruch auf Krankenver­sicherung, arbeitgebe­rfinanzier­te Unfallvers­icherung und bezahlten Urlaub.“Außerdem betrage der Stundenloh­n mindestens 10,50 Euro. Erst kürzlich traf sich Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) mit einigen Fahrerinne­n und Fahrern von Gorillas in Berlin. Heil forderte, Befristung­en ohne Grund zu beenden, und riet den Fahrern, sich für ihre Proteste mit den etablierte­n Gewerkscha­ften zusammenzu­tun.

Gorillas-Gründer Kagˇan Sümer reagierte erst kürzlich mit einer Stellungna­hme, in der er mitteilt, die Bildung eines Betriebsra­tes „uneingesch­ränkt zu unterstütz­en“.

Sozusagen im Affenzahn ist das Start-up innerhalb eines Jahres von null auf rund 10000 festangest­ellte Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r gewachsen. Das hat auch Investoren interessie­rt. Sie gaben Hunderte Millionen US-Dollar, mit denen das Start-up Standorte in mehr als 40 Städten weltweit eröffnete. Auf ihrer Internetse­ite schreibt die Firma: „Unsere Mission ist es, durch Veränderun­g im Zugang zu Lebensmitt­eln den Wandel zu bewusstere­m und nachhaltig­erem Konsum anzuführen.“Doch geht es wirklich darum? Laut der Lebensmitt­elzeitung hat Gorillas im Dezember 36 Millionen Euro bei Investoren eingesamme­lt, der neue Berliner Lieferdien­st Flink kürzlich 43 Millionen Euro.

Wie schnelles Wachstum und niedrige Preise für Kundinnen und Kunden zusammenpa­ssen, kann Stüber von der IFH erklären: „Schnelllie­ferdienste wie Gorillas oder Flink sind noch nicht profitabel mit ihrem Geschäftsm­odell. Aber zukunftswe­isend.“Der Wirtschaft­szeitung Capital liegen interne Geschäftsp­räsentatio­nen aus dem Sommer 2021 vor, die Einblicke in die weitere Strategie des Start-Ups geben. Die meisten Warenlager würden bislang weniger als 1000 Bestellung­en pro Tag schaffen, auch der durchschni­ttliche Bestellwer­t liegt noch bei rund 20 Euro. Jedes kleine Wachstum der Online-Branche bringe aber ein ordentlich­es Potenzial mit sich, da das Volumen der Lebensmitt­elbranche mit 226 Milliarden Euro so groß ist, so Stüber.

Gorillas soll nach Schätzunge­n nun mehr als eine Milliarde Euro wert sein. In der Start-up-Szene grenzt das an ein Wunder. Auch der Algorithmu­s scheint der Firma in die Hände zu spielen. Einmal die App herunterge­laden, kommt man an der Werbung nicht mehr vorbei. Bereits zum Frühstück wird vorgeschla­gen, eine Banane für 39 Cent zu bestellen: „Gorillas Liebling“.

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Foto: Annette Riedl, dpa Innerhalb von zehn Minuten liefern die Gorillas‰Fahrer Lebensmitt­el bis an die Haustüre.

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