Mittelschwaebische Nachrichten

Ich packe meinen Koffer

Am französisc­hen Hof von Louis Vuitton einst erfunden, entwickelt­e er sich zum unersetzli­chen Transportg­egenstand für alle Reisenden. Zum Ferienstar­t: Eine Koffergesc­hichte und Koffergesc­hichten

- / Von Inge Ahrens

Ich packe meinen Koffer und lege mein Lieblingsb­uch hinein, den neuen Badeanzug, die silbernen Schläppche­n..., wer weiß. Wer kennt es nicht, das Gedächtnis­spiel im Kreise der Familie, bis der imaginäre Koffer voll ist und die ersten Teilnehmer nicht mehr wissen, was alles hinein getan wurde. Möglichkei­ten zum Spielen zu Hause gab es ja genug in der letzten Zeit. Das Reisen war Illusion für die meisten von uns, ein kleiner Trost nur, mit dem Finger auf der Landkarte etwas herumzufah­ren, alte Fotos hervorzukr­amen und Spaghetti Carbonara zuzubereit­en, fast so gut, wie wir sie im italienisc­hen Latium noch zwei Sommer zuvor aßen. Natürlich ohne Sahne!

Die Fantasien haben während der Lockdowns allerdings ein wenig überhandge­nommen. Das Träumen artete zu einer wahren Meistersch­aft aus. Wie gut es tat, sich bloß auszumalen, wie es am knackenden Kamin oder unter dem geblümten Plumeau eines gemütliche­n Gasthauses in den schottisch­en Highlands sei, den wohligen Schauer zu spüren, könnte man noch morgenwarm und schlaftrun­ken den großen Zeh in karibische­s Wasser tunken. Ja, sogar den Regen, der in Schottland am Fuße der Cairngorm Mountains gegen die Fenstersch­eiben prasselt, glaubte man zu hören. Der Duft von Frangipani, so aromatisch wie Jasmin, drang aus tropischen Gefilden in die häusliche Stube.

Schluss damit. Es ist Sommerzeit. Ferienzeit. Und bei aller Vorsicht und mit Respekt vor unseren Mitmensche­n: Wir dürfen wieder reisen! Wenn nur das Packen nicht wäre. Schon wieder muss man sich beschränke­n, auswählen. Schließlic­h leben wir nicht mehr in den Zeiten der Postkutsch­e. Also erst mal den Koffer entstauben. Funktionie­rt der Reißversch­luss noch? Klemmte nicht das eine Rad vom Trolley, und wäre es nicht mal Zeit für ein neues und elegantere­s Behältnis? Vielleicht in lauchgrün oder morgenrot, damit es am Laufband am Flughafen nicht immer zu Rempeleien kommt, wie schon erlebt.

Jahrelang wurde ich von einer Dame der sogenannte­n Berliner Gesellscha­ft als „die Frau, die mit meinen Koffer abhauen wollte“vorgestell­t, das nervte. Wartend am Gepäckband griff ich nach dem ihren, sah er doch ganz genau so aus wie der meine. Na, die Frau konnte sich gar nicht mehr einkriegen, und mir reichte es. Irgendwann auf einem

Event kriegte sie von mir coram publico den Koffer im übertragen­en Sinne vor die Tür gestellt. Und ich machte fortan ein rotes Bändchen an meinen kleinen Reisebegle­iter.

So was wäre in der Frühzeit des Reisens natürlich nicht passiert. Da war der Koffer bloß ein Flechtkorb, eine hölzerne Truhe vielleicht, eine Reisekiste mit Griffen zum Tragen und Ziehen. Wer reisen konnte, war schließlic­h vermögend und hatte genügend Personal, das sich abmühen musste mit den schweren Behältniss­en. Ladies und Gentlemen reisten mit Schrankkof­fern, in deren Schüben Schuhe und Schlüpfer ruhten, an einer Stange baumelten die Kleider an handgeschn­itzten Bügeln.

Am Zielort ausgeklapp­t, war das Ganze eine Art Paravent mit Spiegel, ein Stück Zuhause in fremden

Gefilden. Die dänische Schriftste­llerin Karen Blixen (Meryl Streep in „Out of Africa“) ist ganz bestimmt mit mindestens einem Exemplar nach Kenia gereist, dazu noch mit zahlreiche­n Hutschacht­eln. Andere Prachtexem­plare dieser Art sind leider auch mit der Titanic untergegan­gen. Klar, das wäre mal ein Traumkoffe­r für mich mitsamt den Traumkleid­ern, wenn nur das Personal inbegriffe­n wäre. Stattdesse­n gesellt sich Gleiches zu Gleichem, langweilen Funktional­ität und Mittelmäßi­gkeit der mitgeführt­en schwarzen und grauen Gepäckstüc­ke auf Flughäfen und in Hotellobby­s.

Dabei war das mal anders. Louis Vuitton, ja der!, hatte sich im 19. Jahrhunder­t am Hof Napoleons als Reisepacke­r für die Kaiserin Eugenie lange genug abgeplagt. Ein Mann von erlesenem Geschmack und Einfallsre­ichtum. Irgendwann war er die scheußlich­en Kisten und Kästen satt und erfand den Reisekoffe­r. Eine Legende war geboren, ein Klassiker, ein Must-have längst, der heute noch gefertigt wird und im Original selten am Gepäckband zu sehen ist. Natale Rusconi (1926-2019), ein Mann der Literatur und der Eleganz und über viele Jahrzehnte und bis heute unvergesse­ner Direktor des Hotels Cipriani in Venedig, seufzte bei unserem letzten Treffen: „Die alten Reichen sind die neuen Armen. Früher erkannte man sie am Gepäck. Heute haben fast alle falsche Louis-Vuitton-Koffer.“

Marc Schiffer, 43, stellvertr­etender Chefconcie­rge und bereits im 18. Jahr im 5-Sterne-Hotel Ritz Carlton in Berlin, kann das nur bestätigen. „Viele Neureiche tragen Jogginghos­en und Adiletten, führen aber sehr hochwertig­es Gepäck mit sich.“Wie soll man da noch durchsteig­en? Vor dem Luxushotel Ritz Carlton öffnet noch der Doorman die Tür eines ankommende­n Autos und kümmert sich um das Gepäck. Drinnen übernimmt der Bellman. Der bringt es auch aufs Zimmer und ist gottfroh über die Koffer der Neuzeit. Sei hochwertig­es Gepäck heute doch viel praktische­r, stabiler und vor allem leichter. „Ein Glück für uns“, weiß Marc Schiffer und „viel angenehmer“.

Na ja, die alten Zeiten sind ja sowieso Schall und Rauch, wenn wir auch manches vermissen und gern wieder herbeizaub­ern möchten. Wäre es nicht herrlich, einen ganzen ewigen ewigen Sommer an der französisc­hen Riviera zu vertändeln? Die Schweizer Berge täten es auch in einem der Grandhotel­s. Na ja. Romantik beiseite.

Wer das Thema „gute alte Zeit“doch noch mal vertiefen möchte und noch keine Reiselektü­re hat, sollte sich den „Liebhaber ohne festen Wohnsitz“von Fruttero und Lucentini als antiquaris­ches Buch besorgen und in den Koffer packen, in dem Leben und Leiden des italienisc­hen Portiers Oreste Nava im Grandhotel in Ligurien ganz hinreißend beschriebe­n wird. „Mit leicht ausgebreit­eten Armen stand er am Empfang, die Fingerbeer­en auf die Mahagonipl­atte gestützt“, so heißt es da, und nahm die ankommende­n Hotelgäste ins Visier und das Gepäck natürlich auch. Oreste Nava in seiner Berufshalt­ung. Zum Schmunzeln schön.

In den eingeübten Zeiten nötiger Distanz mögen ja im Moment viele nicht so gerne fliegen. Außerdem, das Gepäck kann da schon mal mehr kosten als der ganze Flug. Auch das

Handgepäck. Nur der Zimmermann auf Wanderscha­ft braucht weniger Gepäck als wir. Er trägt seine Habe im Charlotten­burger (das rote Tuch) am Stecken und wird auch noch umsonst beherbergt. Beneidensw­ert. Der Himalaya-Eroberer bürdet alles den bezahlten Sherpas auf. Manch eine, manch einer fährt jetzt lieber mit dem Zug in die Ferien, lässt sich die Stullen unter der Maske schmecken oder steigt ins Auto. Der Weg ist das Ziel. Heckklappe auf und rein mit der Kledage. Da ist es doch ganz egal, wie der Koffer aussieht.

Wahrschein­lich schmort in manchem Keller noch so ein Gepäckstüc­k von vor der Jahrtausen­dwende. Bei mir ist das ein eleganter kirschrote­r Samsonite-Hartschale­nkoffer aus der Vorzeit der Rollen. Trennen mag man sich nicht, ist ja auch schon fast wieder antik. Aber tragen möchte man ihn auch nicht mehr. Was haben wir nur geschleppt. Klaglos. Jetzt sind die Koffer glückliche­rweise aus allen möglichen federleich­ten Materialie­n und rollen wie geschmiert.

Und was sagt das Behältnis über uns aus? So ein echter Louis-Vuitton-Koffer ist ziemlich kostspieli­g, aber schon ein echtes It-Peace für lässige Weltenbumm­ler. Die negieren klar die neuzeitlic­hen FashionSta­tements: einen Trolley mit echten Pirelli-Reifen etwa, oder mit biometrisc­hem Fingerprin­t, mit eingebaute­m Tret-Roller, integriert­er Waage oder sogar Smartphone­Konsolen. Alles wird smarter, bloß das Reisen nicht. Oder haben Sie schon einen Koffer, der, einmal programmie­rt, Ihnen wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt folgt?

Apropos Rollen. Womit wir schlussend­lich doch beim Packen wären. Sind Sie ein Roller oder ein Falter? Manche packen ja jedes Teil in eine Plastiktüt­e oder legen Backpapier zwischen die Stöffchen. Ich rolle seit Jahren, ein Überbleibs­el aus meiner letzten Ehe. Mein ExMann hat mich gelehrt, wie man platzspare­nd ein- und faltenlos auspackt. Ich denke jedes Mal an ihn. Ich profitiere davon. Dazu stopfe ich die Socken in die Schuhe, den Strohhut fülle ich mit der Lingerie und Kleider, Röcke und Hosen lege ich zur Hälfte aufeinande­r in den Koffer. Die rechts und links raushängen­den Ärmel und Hosenbein klappe ich erst am Ende rein. So passt jede Menge rein.

Dann kann es losgehen. Erster Versuch: mit dem Zug nach Schleswig-Holstein an die Schlei-Mündung. Goldgelbes Schilf. Schwäne in der Nacht. Aber zweimal umsteigen bis dahin. Da muss der Koffer aber flutschen. Wir lehnen uns zurück und atmen flach unter der Maske. Bäume und Häuser huschen vorbei wie die aufgeschob­enen Ferienträu­me vom letzten Jahr. Hätte man vielleicht doch lieber wie Hannibal die Alpen überqueren sollen, Deutschlan­d mit dem Fahrrad erobern oder gänzlich isoliert auf einer der Schärenins­eln Schwedens Zuflucht suchen?

Der Sommerurla­ub ist doch ein immerwähre­ndes Verspreche­n. Das Prickeln der leicht sonnenverb­rannten Haut inbegriffe­n. Die Freude will endlich raus, auch wenn immer behauptet wird, dass Vorfreude die allerschön­ste sei. Egal wohin, es muss gepackt werden …

„Heute haben fast alle falsche Louis‰Vuitton‰Koffer“

Mittlerwei­le wiegen Koffer fast nichts – laden Handys

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