Mittelschwaebische Nachrichten

Düstere Aussichten für ein geschunden­es Land

Die Taliban erobern Provinz um Provinz, die Zahl der zivilen Opfer in Afghanista­n steigt, den Ton werden in Zukunft andere Mächte als Europa und die USA angeben. Welche Zukunft liegt vor den Menschen am Hindukusch und was heißt das für Deutschlan­d?

- VON MARGIT HUFNAGEL

Kabul Die Zahlen geben eine düstere Vorahnung davon, was auf die Menschen in Afghanista­n zukommen könnte: Kaum haben die internatio­nalen Truppen das geplagte Land am Hindukusch verlassen, erobern die radikal-islamische­n Taliban Stadt für Stadt, Provinz für Provinz. Die Anzahl der zivilen Opfer hat inzwischen ein Rekordnive­au erreicht. Allein im Mai und Juni wurden nach einem Bericht der Vereinten Nationen 2392 Zivilisten verwundet oder getötet – so viele wie noch nie seit Beginn der UN-Aufzeichnu­ngen 2009. Mehr als 160 der 400 Bezirke des Landes haben die selbsterna­nnten Gotteskrie­ger unter ihre Kontrolle gebracht, zudem mehrere Grenzüberg­änge und Teile wichtiger Überlandst­raßen. Selbst in Regionen Afghanista­ns, in denen sie bislang kaum eine Basis hatten, breiten sich die Taliban aus – und geben damit nicht nur dem Westen eine bittere Ahnung davon, wohin der Weg für die Afghaninne­n und Afghanen führen könnte.

„Wir stehen in Afghanista­n an einem Wendepunkt“, sagt Ellinor Zeino, Leiterin des Regionalpr­ogramms Südwestasi­en der KonradAden­auer-Stiftung. Zeino lebt seit drei Jahren in Kabul, in der Hauptstadt ist die Lage aktuell vergleichs­weise ruhig. Doch die Nervosität steigt. Die Zahl der Binnenflüc­htlinge in Kabul steigt spürbar an, 22 000 Menschen seien zuletzt alleine aus Kandahar geflohen. „Die Taliban gehen sehr strategisc­h vor“, sagt Zeino. Tagsüber würden sie ländliche Regionen erobern, dort haben sie verhältnis­mäßig leichtes Spiel; nachts dann nehmen sie auch die Städte unter Beschuss. Sie besetzen Häuser, töten Gegner. Die Regierungs­truppen versuchen dagegenzuh­alten – bislang aber ohne Erfolg. Zuletzt hatten auch die USA mitgeteilt, wieder vermehrt Luftschläg­e im Land durchzufüh­ren. Die Flieger dafür steigen von außerhalb Afghanista­ns auf. Doch es sind Nadelstich­e, die Gesamtlage ändert sich dadurch nicht.

„Es herrscht eine große Verunsiche­rung bei den normalen Menschen“, sagt Ellinor Zeino. Das liege auch daran, dass vielen nicht mehr klar sei, wie die Taliban überhaupt organisier­t sind. „Ich bezweifle, dass die Taliban noch eine homogene Bewegung sind“, sagt Zeino. Da sei zum einen die offizielle Führung, die derzeit auch „Friedensge­spräche“in Doha führt und zu einem pragmatisc­hen Kompromiss bereit sein könnte. „Die Führung der Taliban will die politische Macht, sie will keinen Bürgerkrie­g“, erklärt die Afghanista­n-Expertin. Zum anderen hätten in den Provinzen aber längst andere das Sagen, junge, radikalisi­erte Männer. „Die sind kompromiss­los“, sagt Zeino. „Sie haben viele Kämpfer aus ihren Reihen verloren, wurden verletzt – nun wollen das Gefühl haben, dass sich das gelohnt hat.“Das hat Folgen für die Sicherheit­slage im Land: Jeder Waffenstil­lstand, der ausgehande­lt wird, kann sofort von einer anderen Gruppierun­g gebrochen werden, die kein Interesse an einer Beruhigung der Lage hat. Es reiche also nicht aus, nur auf die offizielle­n Verhandlun­gspartner zu setzen.

Was heißt das für die Zukunft? „Es ist wichtig, dass wir realistisc­he Erwartunge­n haben, dass wir nicht denken, dass nach einem Friedenssc­hluss auch wirklich Frieden herrscht“, sagt Zeino. „Das wird ein langer Prozess und gerade die Zeit nach einem möglichen Abkommen wird eine sehr verwundbar­e Zeit werden, in der wir mit vielen Störmanöve­rn rechnen müssen.“Auch das Land selbst werde sich mit dem Abzug des Westens verändern. Die Regierung – wie auch immer sie zueher sammengese­tzt sein wird – wird sich neue Bündnispar­tner in der Region suchen. Schon jetzt würden die Regionalst­aaten wie Pakistan, Iran oder Indien wieder eine größere Rolle spielen und selbst mit den Taliban über die Perspektiv­en für die Zukunft verhandeln.

China ist als neuer Teilnehmer im Konzert der Mächtigen hinzugekom­men, erst in der vergangene­n Woche wurde öffentlich, dass sich der chinesisch­e Außenminis­ter mit einer Taliban-Delegation getroffen hat. Die beiden Länder teilen eine gemeinsame Grenze. Peking ist daran gelegen, dass der Terrorismu­s in der Region keinen neuen Auftrieb erfährt – auch, um islamistis­che Gruppierun­gen im eigenen Land kleinzuhal­ten. Aber auch als (sicheres) Transitlan­d für die chinesisch­e Seidenstra­ße ist Afghanista­n interessan­t. „Das Land wird sich veränsie dern, andere Akteure werden Afghanista­n mit ihren politische­n und gesellscha­ftlichen Werten prägen“, sagt Ellinor Zeino. Die alten Player werden das wohl eher aus der Ferne beobachten, zu schmerzhaf­t sind die Erfahrunge­n der vergangene­n Jahrzehnte gewesen.

Und doch wird sich Europa dafür interessie­ren müssen, wie es im Hindukusch weitergeht. Schon jetzt nimmt die Zahl der Flüchtling­e zu. An der türkischen Grenze kommen immer mehr Afghanen an. Tausende sind ohnehin bereits in Deutschlan­d – ihre Chance auf Asyl sind allerdings schlecht. Doch durch die sich zuspitzend­e Lage gewinnt die Diskussion an Schärfe, wie Berlin mit den Menschen umgehen soll. CDU-Chef und Kanzlerkan­didat Armin Laschet positionie­rt sich zumindest gegenüber Straftäter­n mit einer harten Linie. „Wir beobachten die Situation in Afghanista­n sehr genau. Den Vormarsch der Taliban und die Folgen für die Bevölkerun­g können wir nicht ignorieren. Die Lage erfordert daher eine fortlaufen­de Bewertung und sorgsames Vorgehen bei Rückführun­gen. Aber unsere Linie bleibt klar: Wer in Deutschlan­d straffälli­g wird, hat sein Gastrecht verwirkt“, sagte er jetzt der Bild. „Der Grundsatz ,Null Toleranz gegenüber Kriminelle­n‘ erlaubt keine Ausnahmen. Straftäter müssen weiter konsequent abgeschobe­n werden, auch nach Afghanista­n.“

Experten raten, zumindest bei jenen, die keine Straftaten begonnen haben, eine individuel­le Prüfung der Einzelfäll­e vorzunehme­n – denn sonst besteht die Gefahr, dass sich die Abgeschobe­nen gleich wieder auf den Weg in Richtung Europa machen. Viele Männer und Frauen mit afghanisch­em Pass haben nie im eigenen Land gelebt, sondern haben sich über Jahre und Jahrzehnte als Flüchtling­e im Iran aufgehalte­n. Ihnen fehlt bei einer Abschiebun­g das Netzwerk, um sich unter diesen schwierige­n Bedingunge­n behaupten zu können. Hinzu kommt: Viele Afghanen selbst stehen den Rückkehrer­n mit größten Vorbehalte­n gegenüber, sie gelten als Verlierer und zweifelhaf­te Mitbürger.

Doch auch allein mit Entwicklun­gshilfe wird sich die Fluchtbewe­gung kaum aufhalten lassen, glaubt KAS-Expertin Ellinor Zeino. „Diese hat teilweise auch die Korruption befördert und die Gesellscha­ft gespalten in Afghanen, die Zugang zu den Geldern hatten, und jenen, die das nicht hatten“, sagt sie. Die Menschen würden eher wirtschaft­liche Investitio­nen brauchen, Investitio­nen in die desolate Infrastruk­tur und humanitäre Hilfe aufgrund der Hungersnot und mangelnden medizinisc­hen Versorgung. „Ein Staatsaufb­au von außen ist wenig realistisc­h, davon wird man sich nun eher verabschie­den müssen“, sagt Zeino. Die vergangene­n 20 Jahren haben zumindest das bewiesen.

 ?? Foto: Rohullah, dpa ?? Ein Mann schaut durch eine von Bomben zerborsten­e Scheibe. Die USA und die Nato haben ihren Einsatz in Afghanista­n beendet, seither steigt die Gewalt auch gegen Zivi‰ listen wieder deutlich an. Das Land steht an einem Wendepunkt ‰ wohin der weitere Weg führt, ist ungewiss.
Foto: Rohullah, dpa Ein Mann schaut durch eine von Bomben zerborsten­e Scheibe. Die USA und die Nato haben ihren Einsatz in Afghanista­n beendet, seither steigt die Gewalt auch gegen Zivi‰ listen wieder deutlich an. Das Land steht an einem Wendepunkt ‰ wohin der weitere Weg führt, ist ungewiss.

Newspapers in German

Newspapers from Germany