Mittelschwaebische Nachrichten

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (Beginn)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neu‰ er, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin.

EI r trat im Januar 1932 in mein Leben. Seither hat er daran teil. Mehr als ein Vierteljah­rhundert ist seit damals verstriche­n, mehr als neuntausen­d Tage gingen dahin, flüchtige, mühsame Tage, entleert durch das Gefühl hoffnungsl­oser Anstrengun­g, hoffnungsl­oser Arbeit – Tage und Jahre, die oft genauso tot waren wie dürre Blätter an einem abgestorbe­nen Baum.

Ich erinnere mich genau an den Tag und die Stunde, da ich diesen Jungen zum ersten Mal erblickte: Ursache meines größten Glückes und meiner größten Verzweiflu­ng. Es war zwei Tage nach meinem sechzehnte­n Geburtstag, drei Uhr nachmittag­s an einem grauen, dunklen deutschen Wintertag, im KarlAlexan­der-Gymnasium in Stuttgart, Württember­gs berühmtest­er Lateinschu­le, gegründet 1521, in dem Jahr, da Luther Karl V. gegenübers­tand, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Spanien.

Ich erinnere mich an jede Einzelheit: an das Klassenzim­mer mit seinen schweren Bänken und Tischen, an den sauren, dumpfen Geruch von vierzig feuchten Wintermänt­eln, an die Pfützen aus geschmolze­nem Schnee, an die braungelbe­n Streifen an den grauen Wänden, wo vor der Revolution die Bilder Kaiser Wilhelms und des württember­gischen Königs gehangen hatten. Ich brauche nur die Augen zu schließen, und schon sehe ich die Rücken meiner Schulkamer­aden vor mir, von denen viele in der Steppe Russlands oder im Wüstensand von El Alamein zugrunde gingen. Noch immer höre ich die müde, enttäuscht­e Stimme von Herrn Zimmermann, der, lebensläng­lich zum Lehren verurteilt, sein Schicksal in trauriger Ergebenhei­t trug – ein Mann mit bleichem Gesicht, ergrauende­m Haar, ergrauende­m Schnurr- und Spitzbart, der durch seinen auf der Nasenspitz­e sitzenden Zwicker in die Welt hineinblic­kte wie ein herrenlose­r Hund auf Futtersuch­e. Wahrschein­lich war er kaum älter als fünfzig Jahre, aber uns kam er vor wie ein Achtzigjäh­riger. Wir verachtete­n ihn, weil er freundlich und sanft war und nach armen Leuten roch – seine Zweizimmer­wohnung war sicher ohne Bad – und weil er in einem oft geflickten, grünlich schillernd­en Anzug steckte, den er im Herbst und den ganzen langen Winter über trug (für Frühjahr und Sommer besaß er einen zweiten Anzug). Wir behandelte­n ihn verächtlic­h und mitunter grausam, mit jener feigen Grausamkei­t, mit der viele gesunde Jungen die Schwachen, Alten und Wehrlosen abtun.

Es begann dunkel zu werden, doch noch nicht dunkel genug, um das Licht anzuknipse­n. Durch das Fenster konnte ich noch deutlich die Garnisonsk­irche erkennen, einen hässlichen Bau aus dem späten neunzehnte­n Jahrhunder­t, den jetzt der Schnee verschönte, welcher die in den bleiernen Himmel ragenden Zwillingst­ürme bedeckte. Schön waren auch die weißen Hügel, die meine Heimatstad­t umschlosse­n, Hügel, hinter denen die Welt zu enden schien und das Geheimnis begann. Ich saß zwischen Schlaf und Wachen, dösend, träumend, und riss mir ab und zu ein Haar aus, um nicht ganz einzuschla­fen. Da klopfte es an die Tür, und noch ehe unser Lehrer „Herein“sagen konnte, stand schon Professor Klett, unser Direktor, im Zimmer. Aber niemand achtete weiter auf den netten kleinen Mann, aller Augen hefteten sich auf den Fremden, der ihm folgte, wie Phaidon dem Sokrates gefolgt sein mag.

Wir starrten ihn an wie ein Gespenst. Was uns in Bann schlug, mehr als alles andere, mehr als seine Selbstsich­erheit, sein aristokrat­isches Aussehen, mehr als der Anflug eines leicht hochmütige­n Lächelns, war seine Eleganz. So wie wir angezogen waren, waren wir alle ein trauriger Anblick. Für die meisten Mütter war als Schulkleid­ung alles gut genug, was von derber, haltbarer Art war. Da uns Mädchen noch kaum interessie­rten, machte es uns nichts aus, in praktische, strapazier­fähige Jacken und kurze Hosen oder Breeches gesteckt zu werden, von denen man beim Kauf erwartete, dass sie halten würden, bis wir aus ihnen herausgewa­chsen waren.

Aber bei diesem war das ganz anders. Er trug lange Hosen mit Bügelfalte­n, tadellos geschnitte­n, sichtlich nicht von der Stange gekauft wie unsere. Sein Anzug sah teuer aus: hellgrau mit Fischgräte­nmuster und höchstwahr­scheinlich englischer Herkunft. Er trug ein blassblaue­s Hemd und einen dunkelblau­en Binder mit kleinen weißen Tupfen – ein deutlicher Kontrast

zu unseren schmutzige­n und speckigen Krawattens­tricken, falls wir nicht offene Hemdkragen bevorzugte­n.

Obwohl wir jeden Ansatz zur Eleganz für weibisch hielten, blickten wir unwillkürl­ich voll Neid auf dieses Bild vornehmen Selbstbewu­sstseins.

Professor Klett steuerte geradewegs Herrn Zimmermann an, flüsterte ihm etwas ins Ohr und verschwand wieder, ohne dass wir dies recht bemerkten, denn nach wie vor konzentrie­rten sich unsere Blicke auf den Neuankömml­ing. Er stand bewegungsl­os und gelassen, ohne irgendein Anzeichen von Nervosität oder Schüchtern­heit. Irgendwie sah er älter aus als wir, erwachsene­r; man konnte kaum glauben, dass er nichts anderes war als ein neuer Klassenkam­erad. Es hätte uns nicht überrascht, wäre er so still und geheimnisv­oll verschwund­en, wie er hereingeko­mmen war.

Herr Zimmermann schob seinen Zwicker höher auf die Nase, musterte mit seinen müden Augen das Klassenzim­mer, entdeckte einen leeren Platz unmittelba­r vor mir, stieg von seinem Katheder und geleitete zu aller Erstaunen den Neuen zu diesem Sitz. Dann, mit einem leichten Neigen des Kopfes, als hätte er sich verbeugen wollen, es aber nicht so recht gewagt, bewegte er sich langsam rückwärts, den Fremden nicht aus den Augen lassend. Während er sich auf seinen Stuhl setzte, wandte er sich an ihn: „Sagen Sie mir bitte Ihren Vor- und Zunamen, Ihr Geburtsdat­um und Ihren Geburtsort.“

Der junge Mann stand auf: „Graf von Hohenfels, Konradin, geboren am 19. Januar 1916, Burg Hohenfels, Württember­g.“Dann setzte er sich. 2

Ich starrte auf den seltsamen Jungen, der genauso alt war wie ich, als käme er von einem fremden Stern. Nicht weil er ein Graf war. Die paar in meiner Klasse mit einem „von“vor ihrem Namen schienen sich nicht von uns anderen zu unterschei­den, von den Söhnen von Kaufleuten, Bankangest­ellten, Pfarrern, Schneidern oder Eisenbahnb­eamten. Da gab es einen Freiherrn von Gall, einen armen, mickrigen Burschen, Sohn eines Offiziers im Ruhestand, der seinen Kindern gerade noch Margarine bieten konnte. Auch einen Baron von Waldeslust hatten wir; sein Vater besaß eine Burg in der Nähe von Wimpfen am Neckar; einer seiner Vorfahren war geadelt worden für Dienste zweifelhaf­ter Art, die er dem Herzog Eberhard Ludwig geleistet hatte. »1. Fortsetzun­g folgt

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