Mittelschwaebische Nachrichten
Kapitolsturm: Schon vier Polizisten begingen Suizid
Mehr als ein halbes Jahr nach der Attacke auf das Parlament wirken die dramatischen Stunden des 6. Januar nach
Washington Der bullige Beamte wirkt nicht, als wäre er leicht aus der Fassung zu bringen. Seit 13 Jahren arbeitet Harry Dunn bei der Washingtoner Kapitolspolizei. Doch als der Afroamerikaner jetzt vor dem Untersuchungsausschuss zum blutigen Putschversuch vom 6. Januar aussagte, konnte er seine Emotionen kaum zurückhalten: „Was wir an diesem Tag erlebt haben, war traumatisierend.“Offen berichtete Dunn von der Therapie, die er anschließend gemacht hat. „Wenn Sie darunter leiden, nehmen Sie bitte Hilfe in Anspruch“, wandte er sich an seine Kolleginnen und Kollegen.
Wie ernst der Rat des erfahrenen Beamten ist, wird derzeit auf beklemmende Weise deutlich: Schon im Januar hatten sich zwei Polizisten, die das Kapitol verteidigt hatten, das Leben genommen. Am vergangenen Donnerstag, zwei Tage nach der Anhörung des Untersuchungsausschusses, erschoss sich ein 43-jähriger Washingtoner Polizist in seinem Haus. Und am Montag wurde bekannt, dass sich bereits Mitte Juli ein 26-jähriger Kollege das Leben genommen hat. Die Motive sind nicht in allen Fällen klar. Aber die Selbsttötungen haben eines gemeinsam: Alle vier Männer waren beim Kapitolsputsch im Einsatz.
Die Szenen, die sich am 6. Januar im und um das Washingtoner Parlament abspielten, sind auch nach mehr als einem halben Jahr schockierend: Ein aufgebrachter Mob bepöbelte die hoffnungslos überforderte Polizei, die das Gebäude sichern sollte, als „Nazis“und „Verräter“. Harry Dunn berichtete, wie er rassistisch mit dem N-Wort beleidigt wurde, was ihm nie zuvor im Dienst passiert sei.
Es blieb nicht bei verbalen Attacken. Später setzten die Aufrührer Bärenspray und Fahnenstangen gegen die Beamten ein und warfen mit Steinen und Flaschen. Jeffrey S., einer der beiden Polizisten, die sich wenige Tage nach dem Einsatz das Leben nahmen, wurde von einer Metallstange am Kopf getroffen.
Sein Kollege Aquilino Gonell, ein Ex-Soldat, sagte im Untersuchungsausschuss aus, er habe während des Irak-Krieges nicht so viel Angst gehabt wie an jenem Tag auf dem Kapitol. Insgesamt 140 Polizisten wurden bei den Unruhen verletzt, die durch eine Rede des Ex-Präsidenten
Donald Trump ausgelöst worden waren, in der er seine Anhänger aufrief, „wie der Teufel“gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses im Parlament zu kämpfen. Ein Polizist erlitt während der brutalen Attacken einen Herzinfarkt und starb am nächsten Tag. Vier Protestler kamen ums Leben.
Die Familien von Howard L. und Jeffrey S., die sich nach dem versuchten Kapitolssturm das Leben genommen hatten, sehen die beiden Polizisten als Opfer des blutigen Aufstands und kämpfen dafür, dass ihr Tod als Folge der Ausübung des Amtes anerkannt wird. „Wenn er an dem Tag nicht zur Arbeit gegangen wäre, wäre er noch am Leben“, sagte Erin S., die Witwe von Jeffrey S., der Washington Post. Wie zuvor schon diese beiden Beamten würdigte Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi am Montag auch Gunther H. als „Helden“. Der Polizist, der sich am Donnerstag erschoss, hinterlässt eine Frau und drei Kinder.
Trotz dieser tragischen Nachwirkungen wird der 6. Januar von den
Republikanern verharmlost. Früh hatten Donald Trump und seine Vertrauten behauptet, die Aufrührer seien in Wirklichkeit linke Antifa-Aktivisten gewesen. Nun verbreiten ultrarechte Abgeordnete wie Matt Gaetz die Verschwörungserzählung, das FBI habe die Milizen infiltriert und zum Aufstand angestachelt. „Große Teile der Demonstranten waren friedlich“, behauptet Senator Ron Johnson.
Diese Art von radikaler Realitätsverweigerung, klagt der Polizist Michael Fanone, der am 6. Januar mit einem Elektroschocker malträtiert wurde, mache den Umgang mit dem Erlebten noch schwieriger: „Ich fühle mich, als wenn ich durch die Hölle gegangen bin, um die Leute in diesem Raum zu verteidigen“, sagte der 40-Jährige im Untersuchungsausschuss, „und nun sagen mir zu viele, dass die Hölle gar nicht existiert oder nicht so schlimm war“. Für die Gleichgültigkeit, mit der seinen Kollegen begegnet werde, hatte Fanone nur ein Adjektiv übrig: „Erbärmlich.“