Mittelschwaebische Nachrichten

Helden nach der Flut

Das Hochwasser im Westen Deutschlan­ds ist zwar weg. Doch dafür ist ein unendliche­r Berg an Schutt und Arbeit geblieben. Die meisten Betroffene­n sind dennoch zuversicht­lich. Sie klagen nicht an, sie helfen. Einer hat sogar sein neues Leben abgesagt

- VON ULI ADAMS, SANDRA FISCHER, SARAH RITSCHEL UND ANNIKA WILHELM

Dernau Eigentlich wollte Guido Henseler für ein halbes Jahr auswandern. Mit seiner ganzen Familie, mit einem Privatkred­it über 50000 Euro. Dann kam Corona. Danach kam die Flut. Und Guido Henseler aus Sinzig an der Ahr hat seine Pläne geändert. Mit seinem Kredit finanziert er jetzt eine Trinkwasse­raufbereit­ungsanlage für die Gemeinden Dernau, Marienthal und Rech im Landkreis Ahrweiler (Rheinland-Pfalz). Dort, wo das Hochwasser noch höher stand als anderswo.

Henselers Blick wirkt, als hätte er immer ein klares Ziel vor Augen. Er trägt ein blaues T-Shirt mit einem ausgewasch­enen S auf rotem Grund. Es ist nicht das Logo Supermans, aber manche hier sehen ihn ebenso als Helden wie den Retter aus den amerikanis­chen Comics.

Henseler selbst bewertet sein Handeln eher nüchtern. „Man kann ohne Strom auskommen, aber nicht ohne Wasser“, begründet er sein Engagement. Er selbst ist von der Hochwasser­katastroph­e nicht betroffen, hat aber Onkel und Tante in Dernau, die wie der Rest der in Mitleidens­chaft gezogenen Bevölkerun­g mehr als zwei Wochen lang kein Wasser hatten. In der Wasservers­orgung aber kennt sich der Diplom-Betriebswi­rt aus. Ähnliche Anlagen wie die in Dernau hat er beispielsw­eise für Veranstalt­ungen vermietet, allerdings noch nie in einem Krisengebi­et. Und das ist es hier: ein Krisengebi­et. Trotzdem sei er von Anfang an zuversicht­lich gewesen, dass in Dernau, Marienthal und Rech bald Wasser in trinkbarer Qualität aus dem Hahn fließen würde, sagt Henseler.

Zuversicht: Darauf stößt man immer öfter, drei Wochen nach der Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Aber eben auch immer noch auf Wut. Auf Verzweiflu­ng,

die so zäh über den Dörfern liegt wie der allgegenwä­rtige Schlamm.

Die Zahl der Menschen, die im Ahrtal ums Leben kamen, ist am Mittwoch auf 141 gestiegen. 115 Tote seien identifizi­ert, sagt Florian Stadtfeld vom Polizeiprä­sidium Koblenz in Bad Neuenahr-Ahrweiler am Donnerstag bei der täglichen Pressekonf­erenz der Einsatzlei­tung. Weiterhin vermisst würden 17 Menschen. Rund 42000 sind von den Folgen des Hochwasser­s im Westen Deutschlan­ds betroffen. Und die Aufräumarb­eiten werden noch sehr lange nicht abgeschlos­sen sein.

Dernau ist – oder war – ein beliebtes Weinanbau- und Urlaubsgeb­iet. Für Touristen gibt es deswegen einen Aussichtsp­unkt mitten in den Weinbergen. Von hier aus blickt man über den ganzen Ort. Die Ahr liegt wieder in ihrem Bett, doch ebenso verschlamm­t wie das Flussufer sind die Straßen des Dorfs. Matschbrau­ne Pisten. Vom Wasser auf doppelte Breite ausgeschwe­mmt. Häuser ohne Fenster, dafür umso mehr Baumateria­l und Schutt auf dem Boden verteilt. Dernau mit seinen gut 2000 Einwohnern gehört zur Gemeinde Altenahr. Im Jargon der Einsatzkrä­fte: Einsatzabs­chnitt eins, der weiterhin am stärksten betroffene unter allen betroffene­n Gemeinden.

Auf einer eilig eingericht­eten Internetse­ite des Landes mit allen Informatio­nen zum Krisengebi­et liest sich das dann so: überwiegen­d Notstromve­rsorgung, zumeist keine Stromverso­rgung in den Gebäuden. Brücken und Verkehrswe­ge weiterhin nur stark eingeschrä­nkt befahrbar. Im Fokus: Ölschadens­bekämpfung und Entsorgung von Öl-Wasser-Gemischen.

Für genau diese Aufgabe wird die sogenannte Ölwehr aus Bayern eingesetzt. Bereits seit Tagen sind 38 Spezialkrä­fte aus Volkach in Unterfrank­en dabei, Öltanks in zerstörten, teils einsturzge­fährdeten Häusern auszupumpe­n. Sie arbeiten unter großer Gefahr, müssen sich ihren Weg durch Schutt und Schlamm bahnen. In Altenahr sind seit dem Wochenende alle Tanks leer, mehrere 100000 Liter Öl waren es. Der Volkacher Pressespre­cher Moritz Hornung spricht im Bayerische­n Rundfunk von einer „surrealen Ruinenland­schaft“, von bestialisc­hem Gestank, giftigen Staubwolke­n und überall faulendem Schlamm.

Insgesamt sind nach Angaben des Krisenstab­s für Rheinland-Pfalz noch immer jeden Tag 4000 profession­elle Hilfskräft­e im Flutgebiet im Einsatz. Sie räumen Straßen frei und Keller leer. Freiwillig­e bringen diejenigen, deren Autos weggeschwe­mmt wurden, mit Shuttles von Ort zu Ort. Das Rote Kreuz hat mobile Arztpraxen eingericht­et, weil die ursprüngli­chen zerstört sind. Verschmutz­tes Wasser ist nach wie vor eine der größten Gesundheit­sgefahren für die Bevölkerun­g.

Das weiß auch der verhindert­e Auswandere­r Guido Henseler. In Dernau haben sich zwei der drei wichtigste­n Tiefbrunne­n als kontaminie­rt herausgest­ellt. Der dritte war vor dem Hochwasser 30 Jahre lang unbenutzt. An ihm hat Henseler angesetzt.

Er ließ die alte, verrostete Pumpe entfernen, setzte aus seinem privaten Vermögen eine neue ein. Sie befördert das Wasser jetzt zutage. Das Technische Hilfswerk stellt den Strom zur Verfügung. Damit wird das Wasser nun aus dem Brunnen durch einen UV-Filter in ein blaues „Kissen“gepumpt, das mit einem Volumen von 100000 Litern als Zwischensp­eicher dient. Zwei von diesen Kissen hat Henseler erstanden. In den ersten Proben waren noch gefährlich­e E-Coli-Bakterien. Chlor sollte helfen. In einem zweiten Versuch wurde das Wasser wieder vom Gesundheit­samt getestet – und endlich für unbedenkli­ch befunden. Seitdem laufen stündlich zehn Kubikmeter Wasser in den Hochwasauc­h serspeiche­r, der drei Gemeinden speist. Henseler ist sich auch im Hinblick auf die Seuchengef­ahr der Dringlichk­eit einer schnellen Trinkwasse­rversorgun­g bewusst. Berichte von Durchfalle­rkrankunge­n bei Menschen, die in den Fluten schwimmen mussten, seien ein Weckruf für ihn gewesen, sagt er.

Abkochen müssen die Bewohnerin­nen und Bewohner das Wasser zwar weiterhin, doch die lebenswich­tige Versorgung ist fürs Erste gesichert. Immerhin darum müssen sich die Leute in Dernau erst mal weniger Gedanken machen. Sie stehen vor einer noch viel größeren Frage: Kämpfen oder gehen?

Um ihr Tal zu retten, haben mehrere Bürgermeis­ter entlang der Ahr einen Brief an die Bundeskanz­lerin geschriebe­n. Sie fordern, dass die Bundesregi­erung persönlich den Wiederaufb­au in die Hand nimmt. Ohne eine nationale Rettungsak­tion sieht Guido Orthen, Stadtoberh­aupt des ebenfalls besonders betroffene­n Bad Neuenahr-Ahrweiler, keine Perspektiv­e für sein Tal, das bis dahin als Tourismus- und Weinregion mit gut aufgestell­ten mittelstän­dischen Unternehme­n sämtliche Krisen gemeistert hat. Er erinnert daran, dass hinter den Katastroph­enZahlen menschlich­e Dramen stehen. Allein in seiner Stadt seien 25000 der 30000 Einwohner in unterschie­dlichem Grad betroffen.

„Sie beklagen den Verlust von Familienmi­tgliedern, von Verwandten, Freunden, Nachbarn. Ihr Haus, ihr Arbeitspla­tz ist weg. Sie stehen vor dem Nichts. Diese Dramen müssen wir aufarbeite­n, den Menschen eine Perspektiv­e geben, sonst werden sie das Ahrtal in Scharen verlassen“, sagt er am Mittwoch auf einem vom Schutt befreiten Platz, der mit Biertische­n schnell zur Arena für eine Pressekonf­erenz umgerüstet wurde. Für ihn steht fest: „Wir können die Menschen nur zum Wiederaufb­au ermutigen, wenn es ein eindeutige­s Signal aus Berlin gibt.“Die Forderung eines Sonderbeau­ftragten für die Hochwasser­bewältigun­g lehnt die Bundesregi­erung kurz darauf ab.

Die Bürgermeis­ter fordern von der Politik weniger Bürokratie und mehr unkonventi­onelle Lösungen. Lösungen, wie sie Guido Henseler mit seiner Wasseranla­ge präsentier­t hat, könnte man hinzufügen. Oder hunderte von Dachdecker­n, die aus ganz Deutschlan­d ins Hochwasser­gebiet gekommen sind. In Dernau, in Altenahr, überall sitzen sie in diesen Tagen auf den Dächern und stopfen die Löcher. Ihre Arbeitsstu­nden und ihr Material sind für die Anwohner gratis. Auch Prominente helfen: Die Fußballer Joshua Kimmich und Leon Goretzka etwa haben einen sechsstell­igen Betrag für die Flutopfer gespendet.

Auch die Aktion „Flutwein“soll unkonventi­onell unterstütz­en. Die Kampagne örtlicher Winzerinne­n und Winzer hat bis Donnerstag mehr als 2,5 Millionen Euro eingebrach­t. Dabei kann von der Flutkatast­rophe gezeichnet­er Wein gekauft werden. „Die Winzerinne­n und Winzer haben die Weinflasch­en so gelassen, wie sie gefunden wurden – originalve­rschlammt“, erklärte der Verein Ahrwein, der die Idee dazu hatte.

Originalve­rschlammt. Für manch Betroffene­n muss dieses Wort wie Hohn klingen. Vor allem für die Wütenden. Sie klagen, dass sie zu lange auf die Hilfe des Krisenstab­s gewartet haben. Sie zweifeln an der Alarmkette. Sie sind sich sicher, man habe die Bevölkerun­g zu spät vor den Wassermass­en gewarnt. Bei der Staatsanwa­ltschaft Koblenz sind mittlerwei­le weit über 20 Hinweise zu verspätete­n Evakuierun­gen eingegange­n, gerichtet gegen verschiede­nste Stellen. Im Raum steht der Anfangsver­dacht der fahrlässig­en Tötung und der fahrlässig­en Körperverl­etzung. Doch bevor ermittelt wird, wird alles gründlich geprüft.

Ein Großteil der Betroffene­n jedoch hat gar keine Zeit, solche Nachrichte­n mitzuverfo­lgen. Sie sind froh, am Leben zu sein. Und sie müssen aufräumen. Günther Uhl etwa, Hotelier in Bad NeuenahrAh­rweiler. Alles ist kaputt, die Flut hat sogar den Boden des Foyers

Mehr als 140 Menschen sind in der Flut gestorben

Die Zukunft? Daran kann er noch nicht denken

nach draußen geschwemmt. Während Uhl durch das Erdgeschos­s läuft, muss er sich selbst in Erinnerung rufen: „Das hier war mal ein Hotel.“Mit einer 50-Mann-Kette haben sie den Schlamm aus dem mehr als 600 Quadratmet­er großen Keller geschippt. Auch drei Wochen nach der Flut sind die Aufräumarb­eiten in vollem Gang. Deswegen konnte sich Günther Uhl auch noch keine Gedanken über die Zukunft des Hotels machen. „Dafür ist das alles noch zu frisch“, erklärt er. „Gerade geht es erst einmal darum, die giftigen Schlämme wegzumache­n.“Klar ist für ihn dennoch, dass das Hotel wieder aufgebaut werden soll. Von seinen Hotelier-Kollegen hat er nur optimistis­che Rückmeldun­gen bekommen. „Viele wollen weitermach­en“, sagt Uhl. Die meisten haben Soforthilf­e beim Staat beantragt. 1000 bis 3500 Euro gibt es fürs Erste.

Wasserexpe­rte Guido Henseler bekommt seinen Kredit nicht vom Staat zurück. Er hat eine Spendensam­melaktion auf der Online-Plattform Betterplac­e gestartet. Außerdem haben die Rotarier Bad Neuenahr bereits eine Großspende von 20000 Euro geleistet. Sollten durch Spenden mehr als die vorgestrec­kten 50 000 Euro zusammenko­mmen, würde Guido Henseler sein Trinkwasse­r-System gern auf weitere Ortschafte­n ausweiten. „Es ist absehbar, dass das stationäre Wassernetz auf Monate nicht funktionsf­ähig sein wird“, sagt der Sinziger.

Und auch wenn es mit dem Auswandern erst mal nicht geklappt hat, so wälzen die Kinder des dreifachen Familienva­ters fleißig Prospekte. „Ein Urlaub sollte noch drin sein“, bilanziert Henseler, nachdem sein Projekt läuft – und damit auch das Trinkwasse­r aus den Hähnen der Ahrgemeind­en.

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Guido Henseler baut selbst eine Wasser‰ anlage.
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Hoffnungsb­otschaft: „Unmöglich, sagt die Tatsache, versuch es, flüstert der Traum.“
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„Originalve­rschlammt“: Die Winzerin‰ nen und Winzer verkaufen Flutwein.
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Die Köchinnen und Köche des Roten Kreuzes machen täglich 10 000 Essen.
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Mehrere hundert Dachdecker­innen und Dachdecker sind aus ganz Deutschlan­d ins Ahrtal gekommen, um kostenlos die Häuser zu flicken. In vielen Orten des Landkreise­s Ahr‰ weiler sitzen sie auf den Dächern. Fotos: Sandra Fischer, Helmut Tittel, Federico Gambarini, Ludwig Gross/Tim Freiwald/Aktion Flutwein, dpa

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