Mittelschwaebische Nachrichten
Helden nach der Flut
Das Hochwasser im Westen Deutschlands ist zwar weg. Doch dafür ist ein unendlicher Berg an Schutt und Arbeit geblieben. Die meisten Betroffenen sind dennoch zuversichtlich. Sie klagen nicht an, sie helfen. Einer hat sogar sein neues Leben abgesagt
Dernau Eigentlich wollte Guido Henseler für ein halbes Jahr auswandern. Mit seiner ganzen Familie, mit einem Privatkredit über 50000 Euro. Dann kam Corona. Danach kam die Flut. Und Guido Henseler aus Sinzig an der Ahr hat seine Pläne geändert. Mit seinem Kredit finanziert er jetzt eine Trinkwasseraufbereitungsanlage für die Gemeinden Dernau, Marienthal und Rech im Landkreis Ahrweiler (Rheinland-Pfalz). Dort, wo das Hochwasser noch höher stand als anderswo.
Henselers Blick wirkt, als hätte er immer ein klares Ziel vor Augen. Er trägt ein blaues T-Shirt mit einem ausgewaschenen S auf rotem Grund. Es ist nicht das Logo Supermans, aber manche hier sehen ihn ebenso als Helden wie den Retter aus den amerikanischen Comics.
Henseler selbst bewertet sein Handeln eher nüchtern. „Man kann ohne Strom auskommen, aber nicht ohne Wasser“, begründet er sein Engagement. Er selbst ist von der Hochwasserkatastrophe nicht betroffen, hat aber Onkel und Tante in Dernau, die wie der Rest der in Mitleidenschaft gezogenen Bevölkerung mehr als zwei Wochen lang kein Wasser hatten. In der Wasserversorgung aber kennt sich der Diplom-Betriebswirt aus. Ähnliche Anlagen wie die in Dernau hat er beispielsweise für Veranstaltungen vermietet, allerdings noch nie in einem Krisengebiet. Und das ist es hier: ein Krisengebiet. Trotzdem sei er von Anfang an zuversichtlich gewesen, dass in Dernau, Marienthal und Rech bald Wasser in trinkbarer Qualität aus dem Hahn fließen würde, sagt Henseler.
Zuversicht: Darauf stößt man immer öfter, drei Wochen nach der Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Aber eben auch immer noch auf Wut. Auf Verzweiflung,
die so zäh über den Dörfern liegt wie der allgegenwärtige Schlamm.
Die Zahl der Menschen, die im Ahrtal ums Leben kamen, ist am Mittwoch auf 141 gestiegen. 115 Tote seien identifiziert, sagt Florian Stadtfeld vom Polizeipräsidium Koblenz in Bad Neuenahr-Ahrweiler am Donnerstag bei der täglichen Pressekonferenz der Einsatzleitung. Weiterhin vermisst würden 17 Menschen. Rund 42000 sind von den Folgen des Hochwassers im Westen Deutschlands betroffen. Und die Aufräumarbeiten werden noch sehr lange nicht abgeschlossen sein.
Dernau ist – oder war – ein beliebtes Weinanbau- und Urlaubsgebiet. Für Touristen gibt es deswegen einen Aussichtspunkt mitten in den Weinbergen. Von hier aus blickt man über den ganzen Ort. Die Ahr liegt wieder in ihrem Bett, doch ebenso verschlammt wie das Flussufer sind die Straßen des Dorfs. Matschbraune Pisten. Vom Wasser auf doppelte Breite ausgeschwemmt. Häuser ohne Fenster, dafür umso mehr Baumaterial und Schutt auf dem Boden verteilt. Dernau mit seinen gut 2000 Einwohnern gehört zur Gemeinde Altenahr. Im Jargon der Einsatzkräfte: Einsatzabschnitt eins, der weiterhin am stärksten betroffene unter allen betroffenen Gemeinden.
Auf einer eilig eingerichteten Internetseite des Landes mit allen Informationen zum Krisengebiet liest sich das dann so: überwiegend Notstromversorgung, zumeist keine Stromversorgung in den Gebäuden. Brücken und Verkehrswege weiterhin nur stark eingeschränkt befahrbar. Im Fokus: Ölschadensbekämpfung und Entsorgung von Öl-Wasser-Gemischen.
Für genau diese Aufgabe wird die sogenannte Ölwehr aus Bayern eingesetzt. Bereits seit Tagen sind 38 Spezialkräfte aus Volkach in Unterfranken dabei, Öltanks in zerstörten, teils einsturzgefährdeten Häusern auszupumpen. Sie arbeiten unter großer Gefahr, müssen sich ihren Weg durch Schutt und Schlamm bahnen. In Altenahr sind seit dem Wochenende alle Tanks leer, mehrere 100000 Liter Öl waren es. Der Volkacher Pressesprecher Moritz Hornung spricht im Bayerischen Rundfunk von einer „surrealen Ruinenlandschaft“, von bestialischem Gestank, giftigen Staubwolken und überall faulendem Schlamm.
Insgesamt sind nach Angaben des Krisenstabs für Rheinland-Pfalz noch immer jeden Tag 4000 professionelle Hilfskräfte im Flutgebiet im Einsatz. Sie räumen Straßen frei und Keller leer. Freiwillige bringen diejenigen, deren Autos weggeschwemmt wurden, mit Shuttles von Ort zu Ort. Das Rote Kreuz hat mobile Arztpraxen eingerichtet, weil die ursprünglichen zerstört sind. Verschmutztes Wasser ist nach wie vor eine der größten Gesundheitsgefahren für die Bevölkerung.
Das weiß auch der verhinderte Auswanderer Guido Henseler. In Dernau haben sich zwei der drei wichtigsten Tiefbrunnen als kontaminiert herausgestellt. Der dritte war vor dem Hochwasser 30 Jahre lang unbenutzt. An ihm hat Henseler angesetzt.
Er ließ die alte, verrostete Pumpe entfernen, setzte aus seinem privaten Vermögen eine neue ein. Sie befördert das Wasser jetzt zutage. Das Technische Hilfswerk stellt den Strom zur Verfügung. Damit wird das Wasser nun aus dem Brunnen durch einen UV-Filter in ein blaues „Kissen“gepumpt, das mit einem Volumen von 100000 Litern als Zwischenspeicher dient. Zwei von diesen Kissen hat Henseler erstanden. In den ersten Proben waren noch gefährliche E-Coli-Bakterien. Chlor sollte helfen. In einem zweiten Versuch wurde das Wasser wieder vom Gesundheitsamt getestet – und endlich für unbedenklich befunden. Seitdem laufen stündlich zehn Kubikmeter Wasser in den Hochwasauch serspeicher, der drei Gemeinden speist. Henseler ist sich auch im Hinblick auf die Seuchengefahr der Dringlichkeit einer schnellen Trinkwasserversorgung bewusst. Berichte von Durchfallerkrankungen bei Menschen, die in den Fluten schwimmen mussten, seien ein Weckruf für ihn gewesen, sagt er.
Abkochen müssen die Bewohnerinnen und Bewohner das Wasser zwar weiterhin, doch die lebenswichtige Versorgung ist fürs Erste gesichert. Immerhin darum müssen sich die Leute in Dernau erst mal weniger Gedanken machen. Sie stehen vor einer noch viel größeren Frage: Kämpfen oder gehen?
Um ihr Tal zu retten, haben mehrere Bürgermeister entlang der Ahr einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben. Sie fordern, dass die Bundesregierung persönlich den Wiederaufbau in die Hand nimmt. Ohne eine nationale Rettungsaktion sieht Guido Orthen, Stadtoberhaupt des ebenfalls besonders betroffenen Bad Neuenahr-Ahrweiler, keine Perspektive für sein Tal, das bis dahin als Tourismus- und Weinregion mit gut aufgestellten mittelständischen Unternehmen sämtliche Krisen gemeistert hat. Er erinnert daran, dass hinter den KatastrophenZahlen menschliche Dramen stehen. Allein in seiner Stadt seien 25000 der 30000 Einwohner in unterschiedlichem Grad betroffen.
„Sie beklagen den Verlust von Familienmitgliedern, von Verwandten, Freunden, Nachbarn. Ihr Haus, ihr Arbeitsplatz ist weg. Sie stehen vor dem Nichts. Diese Dramen müssen wir aufarbeiten, den Menschen eine Perspektive geben, sonst werden sie das Ahrtal in Scharen verlassen“, sagt er am Mittwoch auf einem vom Schutt befreiten Platz, der mit Biertischen schnell zur Arena für eine Pressekonferenz umgerüstet wurde. Für ihn steht fest: „Wir können die Menschen nur zum Wiederaufbau ermutigen, wenn es ein eindeutiges Signal aus Berlin gibt.“Die Forderung eines Sonderbeauftragten für die Hochwasserbewältigung lehnt die Bundesregierung kurz darauf ab.
Die Bürgermeister fordern von der Politik weniger Bürokratie und mehr unkonventionelle Lösungen. Lösungen, wie sie Guido Henseler mit seiner Wasseranlage präsentiert hat, könnte man hinzufügen. Oder hunderte von Dachdeckern, die aus ganz Deutschland ins Hochwassergebiet gekommen sind. In Dernau, in Altenahr, überall sitzen sie in diesen Tagen auf den Dächern und stopfen die Löcher. Ihre Arbeitsstunden und ihr Material sind für die Anwohner gratis. Auch Prominente helfen: Die Fußballer Joshua Kimmich und Leon Goretzka etwa haben einen sechsstelligen Betrag für die Flutopfer gespendet.
Auch die Aktion „Flutwein“soll unkonventionell unterstützen. Die Kampagne örtlicher Winzerinnen und Winzer hat bis Donnerstag mehr als 2,5 Millionen Euro eingebracht. Dabei kann von der Flutkatastrophe gezeichneter Wein gekauft werden. „Die Winzerinnen und Winzer haben die Weinflaschen so gelassen, wie sie gefunden wurden – originalverschlammt“, erklärte der Verein Ahrwein, der die Idee dazu hatte.
Originalverschlammt. Für manch Betroffenen muss dieses Wort wie Hohn klingen. Vor allem für die Wütenden. Sie klagen, dass sie zu lange auf die Hilfe des Krisenstabs gewartet haben. Sie zweifeln an der Alarmkette. Sie sind sich sicher, man habe die Bevölkerung zu spät vor den Wassermassen gewarnt. Bei der Staatsanwaltschaft Koblenz sind mittlerweile weit über 20 Hinweise zu verspäteten Evakuierungen eingegangen, gerichtet gegen verschiedenste Stellen. Im Raum steht der Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung. Doch bevor ermittelt wird, wird alles gründlich geprüft.
Ein Großteil der Betroffenen jedoch hat gar keine Zeit, solche Nachrichten mitzuverfolgen. Sie sind froh, am Leben zu sein. Und sie müssen aufräumen. Günther Uhl etwa, Hotelier in Bad NeuenahrAhrweiler. Alles ist kaputt, die Flut hat sogar den Boden des Foyers
Mehr als 140 Menschen sind in der Flut gestorben
Die Zukunft? Daran kann er noch nicht denken
nach draußen geschwemmt. Während Uhl durch das Erdgeschoss läuft, muss er sich selbst in Erinnerung rufen: „Das hier war mal ein Hotel.“Mit einer 50-Mann-Kette haben sie den Schlamm aus dem mehr als 600 Quadratmeter großen Keller geschippt. Auch drei Wochen nach der Flut sind die Aufräumarbeiten in vollem Gang. Deswegen konnte sich Günther Uhl auch noch keine Gedanken über die Zukunft des Hotels machen. „Dafür ist das alles noch zu frisch“, erklärt er. „Gerade geht es erst einmal darum, die giftigen Schlämme wegzumachen.“Klar ist für ihn dennoch, dass das Hotel wieder aufgebaut werden soll. Von seinen Hotelier-Kollegen hat er nur optimistische Rückmeldungen bekommen. „Viele wollen weitermachen“, sagt Uhl. Die meisten haben Soforthilfe beim Staat beantragt. 1000 bis 3500 Euro gibt es fürs Erste.
Wasserexperte Guido Henseler bekommt seinen Kredit nicht vom Staat zurück. Er hat eine Spendensammelaktion auf der Online-Plattform Betterplace gestartet. Außerdem haben die Rotarier Bad Neuenahr bereits eine Großspende von 20000 Euro geleistet. Sollten durch Spenden mehr als die vorgestreckten 50 000 Euro zusammenkommen, würde Guido Henseler sein Trinkwasser-System gern auf weitere Ortschaften ausweiten. „Es ist absehbar, dass das stationäre Wassernetz auf Monate nicht funktionsfähig sein wird“, sagt der Sinziger.
Und auch wenn es mit dem Auswandern erst mal nicht geklappt hat, so wälzen die Kinder des dreifachen Familienvaters fleißig Prospekte. „Ein Urlaub sollte noch drin sein“, bilanziert Henseler, nachdem sein Projekt läuft – und damit auch das Trinkwasser aus den Hähnen der Ahrgemeinden.