Mittelschwaebische Nachrichten
Erdogan verbrennt sich die Finger
Wälder stehen in Flammen, die Menschen sind verzweifelt: Die Katastrophe in der Türkei offenbart einmal mehr die Polarisierung der Gesellschaft und die Schwäche der Regierung
Ankara „In welchem Land lebt der eigentlich?“Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochabend in einem regierungsfreundlichen Fernsehsender über die verheerenden Waldbrände sprach, machten etliche Zuschauerinnen und Zuschauer im LiveStream ihrem Ärger über das Staatsoberhaupt Luft. Wo Kritiker ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastrophenschutz sehen, reden Erdogan und seine Regierung von einer effizienten Hilfe gegen die schlimmsten Brände der türkischen Geschichte. Die Feuer offenbaren die Polarisierung der Gesellschaft, die von Erdogan jahrelang vorangetrieben wurde. Die Brände zeigen den Türken die Schwächen einer Regierung, die von einer Rolle als Großmacht träumt, aber die eigene Bevölkerung nicht schützen kann.
Wer in der Türkei regierungsnahe Fernsehsender schaut oder Erdogan-treue Zeitungen liest, der sieht moderne Löschflugzeuge und Hubschrauber. Wer Oppositionskanälen folgt, sieht verzweifelte Dorfbewohner, die versuchen, mannshohe Flammen mit Zweigen zu ersticken und mit Wasserflaschen zu löschen. Manipuliert wird auf beiden Seiten. Unabhängige Medien, die sachlich berichten, gibt es kaum noch, weil Erdogans Regierung sie zensiert.
Erdogans Fernsehaufsicht will alle Medien bestrafen, die ausführlich über die Brände berichten, weil sie damit angeblich die Moral der Bevölkerung untergraben. Erdogan-Gegner lancierten dagegen mit automatischen Twitter-Konten eine Kampagne, mit der das Ausland um Hilfe für die Türkei aufgerufen wird. Die Regierung betrachtet die Kampagne als Versuch, die Türkei international schlecht aussehen zu lassen. Die Justiz ermittelt gegen alle, die sich der Hilfskampagne auf Twitter angeschlossen haben.
Dabei sind Fehler der Regierung offensichtlich. Der Brandschutz wurde vernachlässigt, obwohl Expertinnen und Experten schon lange vor den Folgen der derzeitigen Dürreperiode
warnen. Der Grundwasserspiegel an Ägäis und Mittelmeer fällt seit Jahren, weil immer mehr Hotels und Ferienanlagen gebaut werden. Der Staat ließ seine Löschflugzeuge jahrelang verkommen und mietete stattdessen drei Maschinen von Russland. Dabei fehlt es Erdogan nicht an Flugzeugen: Der Präsident verfügt über eine ganze Flotte von Regierungsmaschinen und schaute sich die Brände bequem aus seinem Hubschrauber an.
Bei den Waldbränden rächt sich auch Erdogans Politisierung staatlicher Institutionen, in denen seine Partei AKP häufig mehr zu sagen hat als Fachbeamte. So beschwerte sich der Bürgermeister von Antalya, der Einsatz von Löschhubschraubern werde von AKP-Leuten koordiniert statt von der Feuerwehr. Außerdem verbreitet der Präsident das Gerücht, die kurdische Terrororganisation PKK stecke hinter den
Bränden. Erdogans völlig unbelegte Schuldzuweisung ist hochgefährlich für die Gesellschaft. In einigen Gegenden bilden sich Lynchmobs, die Jagd auf angebliche kurdische Brandstifter machen.
Schon vor den Waldbränden sahen 60 Prozent der Türken laut einer Umfrage schwarz für die Zukunft ihres Landes. Die steigende Inflation macht den Alltag teuer, Millionen sind ohne Job. Die Opposition thematisiert den Unmut der Türken über die vielen Flüchtlinge im Land. Die Brandkatastrophe dürfte die Unzufriedenheit mit der Regierung verstärken. Erdogans eigenes Verhalten kann diesen Trend nicht stoppen, im Gegenteil. Der 67-Jährige, der seine Karriere auf dem Image als volksnaher Macher aufgebaut hat, wirkt derzeit nicht wie ein Krisenmanager, sondern wie ein Herrscher fern von der Lebenswirklichkeit der Bürger.