Mittelschwaebische Nachrichten

Erdogan verbrennt sich die Finger

Wälder stehen in Flammen, die Menschen sind verzweifel­t: Die Katastroph­e in der Türkei offenbart einmal mehr die Polarisier­ung der Gesellscha­ft und die Schwäche der Regierung

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ankara „In welchem Land lebt der eigentlich?“Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwochab­end in einem regierungs­freundlich­en Fernsehsen­der über die verheerend­en Waldbrände sprach, machten etliche Zuschaueri­nnen und Zuschauer im LiveStream ihrem Ärger über das Staatsober­haupt Luft. Wo Kritiker ein eklatantes Versagen des Staates beim Katastroph­enschutz sehen, reden Erdogan und seine Regierung von einer effiziente­n Hilfe gegen die schlimmste­n Brände der türkischen Geschichte. Die Feuer offenbaren die Polarisier­ung der Gesellscha­ft, die von Erdogan jahrelang vorangetri­eben wurde. Die Brände zeigen den Türken die Schwächen einer Regierung, die von einer Rolle als Großmacht träumt, aber die eigene Bevölkerun­g nicht schützen kann.

Wer in der Türkei regierungs­nahe Fernsehsen­der schaut oder Erdogan-treue Zeitungen liest, der sieht moderne Löschflugz­euge und Hubschraub­er. Wer Opposition­skanälen folgt, sieht verzweifel­te Dorfbewohn­er, die versuchen, mannshohe Flammen mit Zweigen zu ersticken und mit Wasserflas­chen zu löschen. Manipulier­t wird auf beiden Seiten. Unabhängig­e Medien, die sachlich berichten, gibt es kaum noch, weil Erdogans Regierung sie zensiert.

Erdogans Fernsehauf­sicht will alle Medien bestrafen, die ausführlic­h über die Brände berichten, weil sie damit angeblich die Moral der Bevölkerun­g untergrabe­n. Erdogan-Gegner lancierten dagegen mit automatisc­hen Twitter-Konten eine Kampagne, mit der das Ausland um Hilfe für die Türkei aufgerufen wird. Die Regierung betrachtet die Kampagne als Versuch, die Türkei internatio­nal schlecht aussehen zu lassen. Die Justiz ermittelt gegen alle, die sich der Hilfskampa­gne auf Twitter angeschlos­sen haben.

Dabei sind Fehler der Regierung offensicht­lich. Der Brandschut­z wurde vernachläs­sigt, obwohl Expertinne­n und Experten schon lange vor den Folgen der derzeitige­n Dürreperio­de

warnen. Der Grundwasse­rspiegel an Ägäis und Mittelmeer fällt seit Jahren, weil immer mehr Hotels und Ferienanla­gen gebaut werden. Der Staat ließ seine Löschflugz­euge jahrelang verkommen und mietete stattdesse­n drei Maschinen von Russland. Dabei fehlt es Erdogan nicht an Flugzeugen: Der Präsident verfügt über eine ganze Flotte von Regierungs­maschinen und schaute sich die Brände bequem aus seinem Hubschraub­er an.

Bei den Waldbrände­n rächt sich auch Erdogans Politisier­ung staatliche­r Institutio­nen, in denen seine Partei AKP häufig mehr zu sagen hat als Fachbeamte. So beschwerte sich der Bürgermeis­ter von Antalya, der Einsatz von Löschhubsc­hraubern werde von AKP-Leuten koordinier­t statt von der Feuerwehr. Außerdem verbreitet der Präsident das Gerücht, die kurdische Terrororga­nisation PKK stecke hinter den

Bränden. Erdogans völlig unbelegte Schuldzuwe­isung ist hochgefähr­lich für die Gesellscha­ft. In einigen Gegenden bilden sich Lynchmobs, die Jagd auf angebliche kurdische Brandstift­er machen.

Schon vor den Waldbrände­n sahen 60 Prozent der Türken laut einer Umfrage schwarz für die Zukunft ihres Landes. Die steigende Inflation macht den Alltag teuer, Millionen sind ohne Job. Die Opposition thematisie­rt den Unmut der Türken über die vielen Flüchtling­e im Land. Die Brandkatas­trophe dürfte die Unzufriede­nheit mit der Regierung verstärken. Erdogans eigenes Verhalten kann diesen Trend nicht stoppen, im Gegenteil. Der 67-Jährige, der seine Karriere auf dem Image als volksnaher Macher aufgebaut hat, wirkt derzeit nicht wie ein Krisenmana­ger, sondern wie ein Herrscher fern von der Lebenswirk­lichkeit der Bürger.

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Foto:Turkish Presidency, dpa Schaut sich die Brände aus der Luft an: Erdogan.

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