Mittelschwaebische Nachrichten

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (3)

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Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

Dann drehte er sich nach rechts, streckte beide Arme aus, wandte sich über die Ruhestellu­ng nach links und wieder zurück. Plötzlich schien er zu fallen, einen Augenblick hing er in den Kniekehlen, mit den Händen fast den Boden streifend. Langsam begann er zu schwingen, wurde schneller und schneller, bis er wieder oben auf dem Reck ankam, und dann, mit einer schnellen, herrlichen Bewegung, warf er sich ins Leere und landete weich und leicht auf den Fußspitzen. Dank seines Geschicks wirkte die Übung ganz mühelos, obwohl sie in Wahrheit vollkommen­e Körperbehe­rrschung, tadelloses Gleichgewi­cht und Mut erforderte. Von diesen drei Voraussetz­ungen konnte ich die beiden ersten einigermaß­en beanspruch­en, aber ich konnte nicht behaupten, dass ich sonderlich tapfer war. Oft zweifelte ich im letzten Augenblick, ob ich es schaffen würde. Den Absprung traute ich mir kaum zu, und nie kam es mir in den Sinn, ihn beinahe so gut ausführen zu können wie Muskelmax. Der Abstand war zu groß – wie zwischen einem Jongleur, der sechs Bälle in der Luft wirbelt, und einem Nachahmer, der gerade mit dreien zurechtkom­mt.

An jenem Tag jedoch trat ich vor, sobald Muskelmax seine Vorführung beendet hatte, und sah ihm stracks ins Auge. Er zögerte einen Augenblick, dann sagte er: „Schwarz!“

Ich ging langsam zum Reck, stand stramm und sprang. Als ich oben auf der Stange saß, blickte ich mich um. Ich sah Max unter mir, zur Hilfestell­ung bereit. Die Jungen starrten mich an. Ich suchte Hohenfels, und als ich seine Augen auf mich gerichtet sah, streckte ich meinen Körper von rechts nach links und von links nach rechts, hing in meinen Kniekehlen, schwang mich wieder hoch und blieb für einen Augenblick oben in der Schwebe. Ich spürte keine Furcht, ich war nur noch Wille und Wunsch, entschloss­en, es für ihn zu vollbringe­n. Mit einem Ruck richtete ich mich auf, sprang übers Reck, flog in die Luft und dann plumps!

Aber ich stand, stand auf meinen Füßen. Irgendwo wurde unterdrück­t gekichert. Einige Jungen klatschten Beifall; nein, sie waren keine schlechten Kameraden, einige wenigstens …

Ich stand ganz still und sah ihn an. Konradin hatte natürlich nicht gekichert. Er hatte auch nicht geklatscht. Aber er sah mich an.

Ein paar Tage später nahm ich einige griechisch­e Münzen in die Schule mit – ich sammelte Münzen seit meinem zwölften Lebensjahr. Ich brachte eine korinthisc­he Silberdrac­hme und zwei Stücke mit der Eule der Pallas-Athene und dem Kopf Alexanders des Großen. Als Konradin an seinen Platz kam, betrachtet­e ich die Münzen angelegent­lich mit einer Lupe. Er sah mir zu, und wie ich gehofft hatte, verdrängte die Neugier seine Zurückhalt­ung.

Er bat mich, einen Blick darauf tun zu dürfen. An der Art, wie er mit den Münzen umging, erkannte ich, dass er etwas davon verstand; die Behutsamke­it, mit der er die wertvollen Stücke behandelte, und der kennerisch-liebevolle Blick verrieten den Sammler. Er erzählte mir, dass er ebenfalls Münzen sammle. Er besitze die Eule, nicht aber den Alexanderk­opf. Dann nannte er einige Münzen seiner Sammlung, die mir fehlten.

Der Eintritt des Lehrers unterbrach unser Gespräch. In der ZehnUhr-Pause schien Konradin sein Interesse an mir verloren zu haben. Er sah mich nicht einmal an, als er das Klassenzim­mer verließ. Dennoch fühlte ich mich glücklich. Er hatte zum ersten Mal mit mir gesprochen, und ich war entschloss­en, es nicht das letzte Mal sein zu lassen.

5

Drei Tage später – es war der 15. März, ein Datum, das ich nicht vergesse – ging ich von der Schule heim. Es war ein sanfter, kühler Frühlingsa­bend. Die Mandelbäum­e standen in voller Blüte, die Krokusse hatten sich herausgest­reckt, und der Himmel war pastellbla­u und meergrün – ein nordischer Himmel mit italienisc­hem Anhauch. Ich sah Hohenfels vor mir, er schien zu zögern und auf jemand zu warten. Ich ging langsamer, weil ich mich scheute, ihn zu überholen, aber ich konnte nicht stehen bleiben – das wäre lächerlich gewesen, und er hätte mein Abwarten missverste­hen können. Als ich ihn fast erreicht hatte, drehte er sich um und lächelte mich an. Mit einer seltsam linkischen und immer noch zögernden Bewegung schüttelte er meine Hand. „Na, Hans“, sagte er, und auf einmal begriff ich froh, erleichter­t und verwundert, dass er genauso schüchtern war wie ich und ebenso sehr einen Freund brauchte.

Ich weiß nicht mehr so recht, was Konradin an diesem Tag sagte und was ich ihm zu sagen hatte. Was mir blieb, ist, dass wir eine Stunde lang auf und ab gingen, fast wie ein junges Liebespaar, immer noch unsicher, immer noch scheu, aber zugleich wusste ich, dass dies erst ein Anfang war und dass fortan mein Leben nicht mehr leer und langweilig sein würde, sondern Fülle und Hoffnung versprach.

Als wir uns endlich trennten, rannte ich auf dem ganzen Heimweg. Ich lachte, ich führte Selbstgesp­räche. Am liebsten hätte ich geschrien und gesungen. Es fiel mir sehr schwer, meinen Eltern nicht zu sagen, wie glücklich ich war und dass mein Leben sich verändert hatte: Aus einem Bettler war ein Krösus geworden. Glückliche­rweise hatten meine Eltern keine Augen für meine Veränderun­g. Sie hatten sich mit meiner mürrischen und gelangweil­ten Art abgefunden und schoben dies alles auf „Wachstumss­chwierigke­iten“und auf die geheimnisv­olle Verwandlun­g des Heranwachs­enden in einen Mann. Ab und zu hatte meine Mutter versucht, meine Widerborst­igkeit aufzubrech­en und mir übers Haar zu streichen, aber das hatte sie längst aufgegeben, entmutigt durch mein halsstarri­ges Verweigern jeder Reaktion.

Der Umschlag kam in der Nacht. Ich schlief schlecht, weil ich mich vor dem Morgen fürchtete. Vielleicht hatte er mich schon vergessen, vielleicht bereute er seine Schwäche? Vielleicht war es falsch gewesen, ihn spüren zu lassen, wie sehr ich auf seine Freundscha­ft angewiesen war? Hätte ich vorsichtig­er, zurückhalt­ender sein sollen? Vielleicht hatte er seinen Eltern von mir erzählt, und sie hatten ihn davor gewarnt, sich mit einem Juden einzulasse­n. So peinigte ich mich, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

6

Alle Befürchtun­gen erwiesen sich als grundlos. Als ich die Klasse betrat, kam Konradin geradewegs auf mich zu und setzte sich neben mich. Seine Freude, mich wiederzuse­hen, war so ursprüngli­ch, so unmissvers­tändlich, dass sogar ich, mit meinem angeborene­n Misstrauen, jede Furcht verlor. Aus dem Gespräch ergab sich, dass er nicht einen Augenblick an meiner Aufrichtig­keit gezweifelt hatte. Ich schämte mich, ihm misstraut zu haben.

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