Mittelschwaebische Nachrichten

Geliebte Qual

In Japan gehört der Laufsport zu den beliebtest­en Hobbys. Dass der Marathon wegen der Hitze ins nördliche Sapporo verlegt wurde, schmerzte viele Hauptstadt­bewohner. Mit kaum einem Wettbewerb kann man sich mehr identifizi­eren

- VON FELIX LILL

Tokio Wer an einem pandemisch­en Hochsommer­smorgen in Tokio vor die Tür geht, wird zuerst die dicke, windstille Luft bemerken. Schon früh am Tag sind es oft 30 Grad, mit einer Luftfeucht­igkeit von 80 Prozent oder mehr. Zugleich fällt auf, wie viele Menschen dennoch im Anzug oder langen Kostüm zur Arbeit pendeln. Und dann sind da diejenigen, die sich von den widrigen Umständen auf andere Weise unbeeindru­ckt zeigen: Sie joggen, und das sogar mit Maske.

Die Liebe zum Laufen hat in Japan auch in pandemisch­en Sommern nicht nachgelass­en. Olympische Athleten haben während der Spiele über Wetter und Klima geklagt. „Brutal“sei die Hitze, sagte der Tenniswelt­ranglisten­erste Novak Djokovic. Athleten „könnten sterben“, befürchtet­e der Ranglisten­zweite Daniil Medwedew. Diese

Umstände sind oft Thema gewesen. Aber unter Hobbysport­lern, die an ihrer regelmäßig­en Bewegung nichts verdienen, wird sie nur zur Kenntnis genommen.

„Atsui ne“, heißt es oft nickend zur Begrüßung, ob zum gemeinsame­n Joggen oder bei einem Geschäftst­ermin. „Es ist ja so heiß, oder?“Dann wird losgelaufe­n. Und da man hier, wo das Maskentrag­en seit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren Gewohnheit ist, selbst auf der Straße kaum Menschen ohne Mund- und Nasenschut­z sieht, halten sich auch die Läufer dran. Egal, ob der Schutz nach 20 Minuten völlig durchnässt am Mund klebt, dadurch seine Wirksamkei­t verliert, das Atmen dagegen schwerer wird. Es geht hier auch um die Etikette.

Aber es geht eben auch ums Laufen um jeden Preis. Kaum ein Sport ist als Hobby so beliebt wie dieses vermeintli­ch langweilig­ste, das viele Menschen als Qual empfinden. Vor Beginn der Pandemie konnte man allein in Tokio an jedem Wochenende aus mehreren Marathonwe­ttbewerben auswählen, sich noch kurzfristi­g anmelden. Auch um kleinere herum, dann eben in zehn Runden à 4,2 Kilometer, stiegen Hobbywettb­ewerbe. Und die Menschen nehmen es dankend an. Bis Covid-19 kam, dürfte Tokio, die größte Metropole der Welt, zugleich die Welthaupts­tadt des Marathons gewesen sein.

Der Laufsport passt zum in Japan typischen Ansatz zu Sport und Freizeit. Oft vertieft man sich mit großem Ehrgeiz in eine Tätigkeit. Der Schriftste­ller Haruki Murakami, selbst Marathonlä­ufer, hat dies in mehreren Büchern beschriebe­n. Soziologen sagen, die Ernsthafti­gkeit bei Hobbys habe zenbuddhis­tische

Ursprünge, also das Auflösen seines Selbst im Gegenstand der eigenen Aktivitäte­n. Zwei im Alltag sehr gebräuchli­che Begriffe unterstütz­en diese These: „Ganbatte“ist ein Ausruf, der sich mit „Kämpfe“oder „strenge dich an“übersetzt, aber auch bei allen möglichen kleinen Aufgaben gesagt wird. Und „gaman“ist die Tugend des Durchhalte­ns, die allseits sehr geschätzt wird. Im Marathon kommt beides zusammen.

Auch deshalb sahen sich die Organisato­ren des „Tokyo Marathon“schon länger als natürliche­r Standort für ein Rennen der Majors, die presParks tigeträcht­igsten und werbeattra­ktivsten Marathons der Welt, denen bis zum Jahr 2011 nur Berlin, Boston, New York, Chicago und London angehörten. Seitdem zählt auch Tokio zu dieser exklusiven Gesellscha­ft. Die Zahlen rechtferti­gen das ohnehin. Mit knapp 40 000 Läufern, zehnmal so vielen Anmeldungs­versuchen und über einer Million Zuschauern an der Straße war der Tokioter Marathon über die letzten Jahre schon der beliebtest­e der Welt.

Natürlich führt Laufen in Japan nicht immer über 42,195 Kilometer. Die Tradition des Laufsports ist viel älter als der Kulturimpo­rt aus dem Westen. Da ist zum Beispiel der Staffellau­f Ekiden, der unter Studierend­en und Betriebssp­ortlern und -sportlerin­nen bis heute populär ist. Der älteste Wettbewerb seiner Art startet seit 1920 kurz nach dem Jahreswech­sel im südwestlic­h von Tokio gelegenen Hakone. Die je zehn besten Läuferinne­n und Läufer mehrerer Universitä­ten bringen den Staffelsta­b durch kaltes Wetter, Steigungen, scharfe Kurven und eisige Winde – aber in sommerlich­en Laufoutfit­s – über 217,9 Kilometer Richtung Tokio.

Heute gibt es ähnliche Läufe das ganze Jahr über. Aber gerade der Hakone ist so beliebt, dass er live im Fernsehen übertragen und dann in den Zeitungen diskutiert wird. Denn in ihm erkennt man den geschätzte­n Kampf und das Durchhalte­n, die jungen Läufer scheinen insofern als gutes Beispiel für ein ganzes Land. Dies ist ein Grund, warum

Die Hitze nehmen die Japaner nur zur Kenntnis

Die Bewohner Tokios fühlen sich betrogen

sich Tokios Bewohner im Zuge der Olympische­n Spiele eigentlich besonders auf den Marathon gefreut haben.

Nur wurde der schon Ende 2019, nach langen Diskussion­en über die im Sommer starke Hitze und hohe Luftfeucht­igkeit, kurzerhand nach Sapporo verlegt, die Hauptstadt der kühleren Nordinsel Hokkaido. Zum Zeitpunkt des Entschluss­es fühlten sich gerade diejenigen Tokioter hintergang­en, die keine Tickets für andere Events hatten. Ohnehin galt in Tokio der Marathon als die größtmögli­che Freiluftsp­ortparty im Zuge Olympias.

Nun wird er dies wegen der Pandemie nicht und wegen der Verschiebu­ng nach Sapporo schon gar nicht. Aber in Erinnerung könnten die zwei Rennen der Frauen und Männer an diesem Wochenende trotzdem bleiben. In der Pandemie haben viele Menschen in Japan erst neu mit dem Laufen angefangen. Beim Joggen wie beim Umgang mit Covid-19 geht es ja vor allem um Durchhalte­n. So, wie die Topathlete­n ihren Sport über gut 42 Kilometer auch oft beschreibe­n.

 ?? Foto: Kyodo, dpa ?? Jährlich starten 40 000 Läuferinne­n und Läufer in Tokio beim Marathon. Es ist der beliebtest­e Wettbewerb dieser Art weltweit. Das Laufen kommt jenen Charakterz­ügen entgegen, die tief in der Gesellscha­ft verwurzelt sind.
Foto: Kyodo, dpa Jährlich starten 40 000 Läuferinne­n und Läufer in Tokio beim Marathon. Es ist der beliebtest­e Wettbewerb dieser Art weltweit. Das Laufen kommt jenen Charakterz­ügen entgegen, die tief in der Gesellscha­ft verwurzelt sind.

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