Mittelschwaebische Nachrichten
USA fürchten, dass auch Kabul fällt
In Afghanistan spitzt sich die Lage immer weiter zu. Das hat Folgen für die deutsche Flüchtlingspolitik
Berlin/Kabul Wegen der dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan schiebt Deutschland vorerst keine abgelehnten Asylbewerber mehr dorthin ab. Ein Rechtsstaat trage Verantwortung dafür, dass die Betroffenen durch eine Abschiebung nicht in Gefahr gerieten, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). „Die Sicherheitslage vor Ort ändert sich derzeit so rasant, dass wir dieser Verantwortung weder für die Rückzuführenden noch für die Begleitkräfte und die Flugzeugbesatzung gerecht werden können.“
Damit zieht die Bundesregierung erste Konsequenzen aus dem Vormarsch der militant-islamistischen Taliban, die seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April große Teile des Landes erobert haben. Am Mittwoch nahmen sie mit Faisabad eine weitere Provinzhauptstadt ein, in der einst die Bundeswehr mit einem großen Feldlager stationiert war. In Kundus brachten sie den Flughafen und eine große Militärbasis unter ihre Kontrolle, in der vergangenes Jahr noch rund hundert deutsche Soldaten stationiert waren.
Der Druck auf die Bundesregierung, die Abschiebepraxis zu ändern, war angesichts der dramatischen Entwicklung in den vergangenen Tagen massiv gewachsen. Erst am Dienstag hatten sich die in Kabul vertretenen EU-Botschafter in einem internen Schreiben an die Hauptstädte für einen Abschiebestopp ausgesprochen.
Seehofer betonte, dass die Entscheidung bei einer Verbesserung der Lage wieder rückgängig gemacht werden könne. „Sobald es die Lage zulässt, werden Straftäter und Gefährder wieder nach Afghanistan abgeschoben.“Seit 2016 sind mehr als 1000 Migrantinnen und Migranten mit Abschiebeflügen nach Afghanistan zurückgebracht worden, überwiegend Straftäter.
Der rasante Vormarsch der Taliban hält unterdessen unvermindert an. Dabei haben die Islamisten nun schon weite Teile des Gebiets unter ihre Kontrolle gebracht, für das die Bundeswehr während ihres 20-jährigen Afghanistaneinsatzes innerhalb der Nato zuständig war. Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr noch bis vor wenigen Wochen ihr Hauptquartier hatte, ist bisher noch vom Taliban-Vormarsch verschont geblieben.
Die US-Geheimdienste rechnen allerdings damit, dass auch die Hauptstadt Kabul viel früher in die Hände der Taliban fallen könnte als bisher angenommen. Der Zusammenbruch könnte in 30 bis 90 Tagen erfolgen, berichtete die Washington Post unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten. Noch im Juni hatten USGeheimdienstmitarbeiter die Lage so eingeschätzt, dass Kabul in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach dem Abzug des US-Militärs unter Kontrolle der Taliban geraten könnte.
Die USA und ihre Verbündeten wollen trotz der Entwicklung nichts mehr an ihrem Abzug aus Afghanistan ändern. Die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“, sagte US-Präsident Joe Biden. „Aber sie müssen auch kämpfen wollen.“Zum US-Truppenabzug sagte der Präsident: „Ich bedauere meine Entscheidung nicht.“