Mittelschwaebische Nachrichten

England nimmt weiter Kurs auf Normalität

Weil die Infektions­zahlen auf überschaub­arem Niveau bleiben, sieht sich die Regierung in London in ihrer konsequent­en Öffnungsst­rategie bestätigt. Nun sollen die letzten Beschränku­ngen fallen, doch noch lauert eine Gefahr

- Christoph Meyer und Larissa Schwedes, dpa

London Boris Johnson ist zufrieden. Dank eines kräftigen Wirtschaft­swachstums, einer erfolgreic­hen Impfkampag­ne und der „Stärke und Widerstand­skraft“der Briten sei man in einer „Position der Stärke“, jubilierte der britische Premiermin­ister auf Twitter. Die Regierung in London sieht sich angesichts stagnieren­der Corona-Infektions­zahlen in ihrer konsequent­en Öffnungsst­rategie bestätigt und will weiter lockern. Von kommender Woche an soll die Pflicht zur Selbstisol­ation bei Kontakt mit Infizierte­n aufgehoben werden.

Wie das Gesundheit­sministeri­um in London mitteilte, werden zweifach geimpfte Erwachsene und Minderjähr­ige

in England künftig lediglich dazu aufgeforde­rt, einen Corona-Test zu machen, sollten sie als Kontaktper­sonen identifizi­ert werden. Bislang mussten sie eine zehntägige Quarantäne einhalten. Die von den Medien als „Pingdemic“bezeichnet­en massenhaft­en Aufforderu­ngen zur Selbstisol­ation hatten jedoch zu Personalen­gpässen, beispielsw­eise bei Supermärkt­en und im Nahverkehr, geführt. Das hatte den sogenannte­n „Freedom Day“(Tag der Freiheit) am 19. Juli etwas verhagelt, als im größten britischen Landesteil England fast alle CoronaRege­ln aufgehoben wurden. Daher ist nun bereits die Rede vom „Real Freedom Day“, dem „echten Tag der Freiheit“.

Möglich ist das, weil der von Experten erwartete Anstieg der täglichen Neuinfekti­onen auf bis zu 100000 oder sogar mehr bislang ausgeblieb­en ist. Die zunächst starke Zunahme auf bis zu 60000 Neuinfekti­onen an einem Tag ließ Mitte Juli nach, die Zahl ging dann schlagarti­g zurück. Seitdem liegt sie um die Marke von rund 30 000 – und steigt nur langsam. Die Regierung führt das auf die erfolgreic­he Impfkampag­ne zurück.

Mehr als 75 Prozent der Erwachsene­n im Vereinigte­n Königreich haben bereits zwei Impfdosen erhalten. Doch auch die Schulferie­n könnten eine Rolle spielen. Gesundheit­sminister Sajid Javid pries das Programm als Ausweg aus der Pandemie. „Impfungen sind das, was diese Pandemie zu einem Ende bringen wird“, sagte Javid einer Mitteilung von Mittwochab­end zufolge. Er fügte hinzu: „Der Schutzwall, den die Kampagne geschaffen hat, erlaubt uns sogar, noch näher an ein normales Leben heranzukom­men.“

Die neuen Lockerunge­n bezeichnet­e er als „riesigen Schritt“bei der Rückkehr zur Normalität. Offizielle­n Schätzunge­n zufolge wurden durch das britische Impfprogra­mm bereits rund 60000 Menschenle­ben gerettet sowie 22 Millionen Infektione­n

und knapp 67000 Krankenhau­seinweisun­gen verhindert. Gleichzeit­ig warnen Experten jedoch, dass die viel beschworen­e Herdenimmu­nität durch die inzwischen in Großbritan­nien vorherrsch­ende Delta-Variante nicht mehr zu erreichen sei.

Es sei inzwischen klar, dass sich auch Geimpfte mit der Variante anstecken könnten, sagte einer der Entwickler des AstraZenec­a-Impfstoffs, Andrew Pollard, einer Gruppe von britischen Parlamenta­riern in dieser Woche. „Wir haben nichts, was die Übertragun­g stoppt“, so Pollard. Jeder, der nicht geimpft sei, werde sich daher früher oder später infizieren. Bislang hatte es noch immer die Hoffnung gegeben, eine hohe Impfrate könne die Pandemie womöglich zum Stillstand bringen. Angesichts der weltweiten Ausbreitun­g des Coronaviru­s dürfte das nach Ansicht von Experten durch Einschlepp­ungen von außen jedoch ohnehin utopisch gewesen sein.

Doch die aktuelle Welle könnte ihren Höhepunkt bereits überschrit­ten haben, glaubt Azeem Majeed, ein Experte für öffentlich­e Gesundheit am Imperial College London. „Ich denke nicht, dass wir 50000 Fälle pro Tag in diesem Jahr noch mal übersteige­n“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Glückliche­rweise

gebe es mittlerwei­le ein recht hohes Niveau an Immunität in der Bevölkerun­g – sowohl durch Impfungen als auch durch überstande­ne Infektione­n. Majeed schließt trotzdem nicht aus, dass es negative Entwicklun­gen geben könnte und die Briten wieder auf einige ihrer neu gewonnenen Freiheiten verzichten werden müssen. „Es könnte sein, dass wir erneut sehr gezielte Maßnahmen in Umfeldern mit hohem Risiko einführen müssen“, sagte der Mediziner.

Für Nachtclubs hat die Regierung bereits angekündig­t, dass ab September Impfnachwe­ise Pflicht werden sollen. „Ich würde das unterstütz­en“, sagte Majeed. Es bleibe die große Gefahr, dass neue Varianten entstehen, die sich der Wirkung der Impfstoffe entziehen – also sogenannte „Immun-Escape-Varianten“–, und man fast wieder vor der gleichen Situation steht wie zu Beginn der Pandemie. „Jede Umgebung mit hohen Fallzahlen birgt das Risiko, dass neue Varianten entstehen“, so Majeed. In Großbritan­nien sind diese Voraussetz­ungen mit einer Wochen-Inzidenz von zuletzt um die 280 noch immer gegeben, auch wenn die ganz große Welle nach dem „Freedom Day“bislang ausgeblieb­en ist.

Jetzt kommt der „echte“Tag der Freiheit

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Foto: Alberto Pezzali, dpa Die Freude war riesig, als in England Mitte Juli die Tanzclubs nach 17 Mona‰ ten Corona‰Pause zum ersten Mal wieder öffneten.

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