Mittelschwaebische Nachrichten
England nimmt weiter Kurs auf Normalität
Weil die Infektionszahlen auf überschaubarem Niveau bleiben, sieht sich die Regierung in London in ihrer konsequenten Öffnungsstrategie bestätigt. Nun sollen die letzten Beschränkungen fallen, doch noch lauert eine Gefahr
London Boris Johnson ist zufrieden. Dank eines kräftigen Wirtschaftswachstums, einer erfolgreichen Impfkampagne und der „Stärke und Widerstandskraft“der Briten sei man in einer „Position der Stärke“, jubilierte der britische Premierminister auf Twitter. Die Regierung in London sieht sich angesichts stagnierender Corona-Infektionszahlen in ihrer konsequenten Öffnungsstrategie bestätigt und will weiter lockern. Von kommender Woche an soll die Pflicht zur Selbstisolation bei Kontakt mit Infizierten aufgehoben werden.
Wie das Gesundheitsministerium in London mitteilte, werden zweifach geimpfte Erwachsene und Minderjährige
in England künftig lediglich dazu aufgefordert, einen Corona-Test zu machen, sollten sie als Kontaktpersonen identifiziert werden. Bislang mussten sie eine zehntägige Quarantäne einhalten. Die von den Medien als „Pingdemic“bezeichneten massenhaften Aufforderungen zur Selbstisolation hatten jedoch zu Personalengpässen, beispielsweise bei Supermärkten und im Nahverkehr, geführt. Das hatte den sogenannten „Freedom Day“(Tag der Freiheit) am 19. Juli etwas verhagelt, als im größten britischen Landesteil England fast alle CoronaRegeln aufgehoben wurden. Daher ist nun bereits die Rede vom „Real Freedom Day“, dem „echten Tag der Freiheit“.
Möglich ist das, weil der von Experten erwartete Anstieg der täglichen Neuinfektionen auf bis zu 100000 oder sogar mehr bislang ausgeblieben ist. Die zunächst starke Zunahme auf bis zu 60000 Neuinfektionen an einem Tag ließ Mitte Juli nach, die Zahl ging dann schlagartig zurück. Seitdem liegt sie um die Marke von rund 30 000 – und steigt nur langsam. Die Regierung führt das auf die erfolgreiche Impfkampagne zurück.
Mehr als 75 Prozent der Erwachsenen im Vereinigten Königreich haben bereits zwei Impfdosen erhalten. Doch auch die Schulferien könnten eine Rolle spielen. Gesundheitsminister Sajid Javid pries das Programm als Ausweg aus der Pandemie. „Impfungen sind das, was diese Pandemie zu einem Ende bringen wird“, sagte Javid einer Mitteilung von Mittwochabend zufolge. Er fügte hinzu: „Der Schutzwall, den die Kampagne geschaffen hat, erlaubt uns sogar, noch näher an ein normales Leben heranzukommen.“
Die neuen Lockerungen bezeichnete er als „riesigen Schritt“bei der Rückkehr zur Normalität. Offiziellen Schätzungen zufolge wurden durch das britische Impfprogramm bereits rund 60000 Menschenleben gerettet sowie 22 Millionen Infektionen
und knapp 67000 Krankenhauseinweisungen verhindert. Gleichzeitig warnen Experten jedoch, dass die viel beschworene Herdenimmunität durch die inzwischen in Großbritannien vorherrschende Delta-Variante nicht mehr zu erreichen sei.
Es sei inzwischen klar, dass sich auch Geimpfte mit der Variante anstecken könnten, sagte einer der Entwickler des AstraZeneca-Impfstoffs, Andrew Pollard, einer Gruppe von britischen Parlamentariern in dieser Woche. „Wir haben nichts, was die Übertragung stoppt“, so Pollard. Jeder, der nicht geimpft sei, werde sich daher früher oder später infizieren. Bislang hatte es noch immer die Hoffnung gegeben, eine hohe Impfrate könne die Pandemie womöglich zum Stillstand bringen. Angesichts der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus dürfte das nach Ansicht von Experten durch Einschleppungen von außen jedoch ohnehin utopisch gewesen sein.
Doch die aktuelle Welle könnte ihren Höhepunkt bereits überschritten haben, glaubt Azeem Majeed, ein Experte für öffentliche Gesundheit am Imperial College London. „Ich denke nicht, dass wir 50000 Fälle pro Tag in diesem Jahr noch mal übersteigen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Glücklicherweise
gebe es mittlerweile ein recht hohes Niveau an Immunität in der Bevölkerung – sowohl durch Impfungen als auch durch überstandene Infektionen. Majeed schließt trotzdem nicht aus, dass es negative Entwicklungen geben könnte und die Briten wieder auf einige ihrer neu gewonnenen Freiheiten verzichten werden müssen. „Es könnte sein, dass wir erneut sehr gezielte Maßnahmen in Umfeldern mit hohem Risiko einführen müssen“, sagte der Mediziner.
Für Nachtclubs hat die Regierung bereits angekündigt, dass ab September Impfnachweise Pflicht werden sollen. „Ich würde das unterstützen“, sagte Majeed. Es bleibe die große Gefahr, dass neue Varianten entstehen, die sich der Wirkung der Impfstoffe entziehen – also sogenannte „Immun-Escape-Varianten“–, und man fast wieder vor der gleichen Situation steht wie zu Beginn der Pandemie. „Jede Umgebung mit hohen Fallzahlen birgt das Risiko, dass neue Varianten entstehen“, so Majeed. In Großbritannien sind diese Voraussetzungen mit einer Wochen-Inzidenz von zuletzt um die 280 noch immer gegeben, auch wenn die ganz große Welle nach dem „Freedom Day“bislang ausgeblieben ist.
Jetzt kommt der „echte“Tag der Freiheit