Mittelschwaebische Nachrichten
„Der Politik fehlt der Weitblick“
Interview Nicht nur die hohen Preise am Bau beschäftigen das Handwerk, sondern auch Energiewende und Klimaschutz. Hier wird es viel Arbeit geben, sagt Präsident Hans Peter Wollseifer und ruft jungen Menschen zu: Bei uns gibt es Perspektiven
Herr Wollseifer, wer sich in letzter Zeit mit dem Thema Hausbau beschäftigt hat, dem mussten die Tränen kommen. Der Immobilienboom reißt trotz Corona-Krise nicht ab, und die Preise für Baumaterial zeigen steil nach oben. Warum ist das Bauen bei uns so teuer, dass selbst Gutverdiener an ihre Grenzen stoßen? In anderen europäischen Ländern ist es ja auch günstiger.
Hans Peter Wollseifer: Bei uns ist die Qualität auch sehr hoch: sehr solide Bauweise und hochwertige Materialien. Es gibt ja aber auch entlastende Faktoren: die niedrigen Zinsen etwa oder die finanziellen Entlastungen und auch Förderungen durch Bund und Länder für junge Familien. Da allerdings sollte man sich jetzt mal Gedanken machen, ob diese Förderung nicht der Preisentwicklung angepasst werden muss. Das legen wir der zukünftigen Regierung nahe.
Haben wir uns bei den Baumaterialien zu sehr auf die Produktion im Ausland verlassen und schauen deshalb jetzt in die Röhre? Ist es beim Holz also möglicherweise so wie bei den Impfstoffen? Wollseifer: Grundsätzlich profitieren wir alle von einem freien und fairen Welthandel. Beim Holz sollten wir uns aber in der Tat Gedanken machen, wo nachgesteuert werden kann, zum Beispiel, ob wir die Normen und Richtlinien so belassen, wie sie derzeit sind. Wir könnten zum Beispiel durchaus Borkenkäferholz etwa zu Dämmstoff verarbeiten, das wurde in der Vergangenheit nur begrenzt gemacht. China hingegen nimmt es gerne. Wir haben darüber hinaus viel zu wenige Sägewerke in Deutschland.
Wer nur kleine Aufträge zu erteilen hat, einen kaputten Wasserhahn zum Beispiel, sucht oft sehr lange nach einem Betrieb. Viele Unternehmen können sich ihre Aufträge aussuchen, manche sagen bereits zugesagte Termine nicht mal mehr ab, wenn sie stattdessen einen lukrativeren Job übernommen haben. Sind das nur vereinzelte Probleme oder haben wir eine sich verfestigende Entwicklung vor uns? Wollseifer: Es mag in Einzelfällen vorkommen, dass es zu Kollisionen kommt. Dass Stammkunden bedient werden und dass man die in der Kartei hat, das ist klar. Aber das ist nicht nur im Handwerk so, das ist überall so und auch üblich. Aber es ist ganz und gar nicht so, dass der kleine Auftrag nicht mehr attraktiv ist, wenn die Kapazität da ist. Die Betriebe machen, was sie können, wenn sie die Kapazitäten haben, lehnen sie Aufträge nicht ab.
Womit wir bei der Personalsituation in Ihrer Branche wären. Auszubildende und ausgebildete Fachkräfte waren in den letzten Jahren Mangelware. Hat sich die Situation gebessert? Wollseifer: Die Lage ist insgesamt nicht schlecht, wenn Sie mich das aber vor zwei Wochen gefragt hätten, wäre ich noch zuversichtlicher als im Moment. Wir befinden uns in einem Aufholprozess zum letzten Jahr, das wegen Corona natürlich in jeder Form außergewöhnlich war, doch das Aufholrennen hat sich im Juli leider etwas verlangsamt. Das kann natürlich auch an der Ferienzeit liegen. Gegenüber dem Vorjahres-Juli liegt das Plus Ende Juli 2021 bei den neu abgeschlossenen Lehrverträgen bei 6,5 Prozent. Im Vormonat hatten wir hier um 13,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahres-Juni zulegen können. Insgesamt haben wir also einige tausend Auszubildende mehr als vergangenes Jahr, aber an das Vor-Corona-Niveau knüpfen wir damit noch nicht an. Wir werden jedenfalls in den nächsten Wochen nicht darin nachlassen, diesen Rückstand aufzuholen: In dem von uns angestoßenen Sommer der Berufsbildung wird es noch zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen geben, bei denen wir über die berufliche Ausbildung informieren und Jugendliche so dafür begeistern und gewinnen möchten. In unserer Imagekampagne heißt es „Wir sind Handwerker, wir schaffen das“– ich bin mir sicher, hier auch.
Wie groß ist die Lücke?
Wollseifer: Das ist noch eine ganze Schippe Arbeit, um an die Zahlen aus der Zeit vor Corona anzuknüpfen. Dabei sind die Angebote für junge Menschen da: Im ganzen Land gibt es noch 30.000 freie Ausbildungsplätze in allen Lehrberufen. Die mögen nicht immer direkt vor der eigenen Haustür liegen, aber sind erreichbar. Ich kann alle Jugendlichen nur ermutigen, sich das anzuschauen. Wenn sie in ihrem Leben eine echte Perspektive suchen, dann sollten sie einen Beruf im Handwerk lernen: Denn bei all den anstehenden Zukunftsaufgaben im Klimaschutz, bei der Energie- und Mobilitätswende, bei Smarthome und E-Health wird die Arbeit ganz sicher nicht ausgehen.
Der Mangel an Auszubildenden ist nichts Neues. Er wird seit Jahren beklagt. Müssten Ihre Handwerksbetriebe den Lehrlingen nicht einfach mehr zahlen und für bessere Bedingungen sorgen, um attraktiv zu sein?
Wollseifer: Da werden oft Äpfel mit Birnen verglichen. Die Höhe von Ausbildungsvergütungen variiert sehr stark – je nach Gewerk, Region und Branchen-Tarifverträgen. Da gibt es natürlich klare Unterschiede, wenn man etwa die Azubi-Vergütung in der Automobilindustrie im Südwesten Deutschlands und im Friseurhandwerk in Sachsen-Anhalt nebeneinanderlegt. Über das Gesamthandwerk gesehen liegen wir aber im guten Mittelfeld, teils auch deutlich drüber. Im Hochbau etwa kommen die Auszubildenden in ihrem letzten Lehrjahr nahe an 1500 Euro heran. Das ist ein Wort.
Der Klimaschutz ist in aller Munde. Erneuerbare Energien sollen ein Mittel im Kampf gegen die Erderwärmung sein, Solaranlagen und Windräder müssen aber von Fachleuten, von Handwerkern aufgebaut werden. Hat die Regierung das Problem Ihrer Meinung nach schon richtig erkannt?
Wollseifer: Nein! Wenn ich in die Wahlprogramme schaue, bin ich irritiert. Die Bedeutung der beruflichen Bildung wird dort viel zu wenig bedacht. Es fehlt der Politik der Weitblick. Dort will man mehr Klimaschutz, mehr Energieeffizienz, mehr E-Mobilität. Dass für dieses Mehr in allen Zukunftsbereichen auch noch mehr Handwerkerinnen und Handwerker gebraucht werden und man spätestens jetzt damit anfangen muss, die auch auszubilden, das wird kaum bis gar nicht bedacht. Mit dem jetzigen Stamm an Beschäftigten werden wir all das Zusätzliche wohl kaum hinbekommen. Wir brauchen dafür mehr qualifizierte Fachkräfte. Die wachsen nicht auf den Bäumen. Dennoch haben Bund und Länder seit Jahrzehnten die falschen Prioritäten in der Bildungspolitik gesetzt. Die Parteien haben alle nicht auf dem Schirm, dass sie bei der beruflichen Bildung – auch finanziell – deutlich stärker einsteigen müssen, wenn ihre Pläne und Vorhaben gelingen sollen.
Wie meinen Sie das?
Wollseifer: Die Bildungspolitik konzentriert sich seit langem zu einseitig auf die akademische Ausbildung und hat die berufliche Bildung vernachlässigt. Das Ziel ist nach wie vor, möglichst viele junge Menschen an die Unis zu kriegen. Dahin wird viel Geld und Aufmerksamkeit gelenkt. Wir kommen zum Beispiel als Handwerk bei der Berufsorientierung an den Gymnasien kaum vor. Die Ausstattung der Berufsschulen müsste auch viel besser sein, wenn wir es ernst meinen, dass berufliche und akademische Bildung gleichwertig sind. Wir tragen das seit Jahren gebetsmühlenartig vor, geändert hat sich noch viel zu wenig.
Eigentlich müssten sich doch junge Leute genau für die Berufe interessieren, in denen sie den Klimaschutz ganz praktisch voranbringen können? Wollseifer: Das sehe ich auch so. Ich persönlich finde es gut, dass Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen, aber ich bin etwas enttäuscht, dass es in der Regel beim Protest bleibt. Wenn man das Engagement zu Ende denkt, sollte man es nicht ganz überwiegend nur beim Demonstrieren belassen.
Sondern?
Wollseifer: Sondern auf die Idee kommen, aktiv Klimaschutzarbeit zu leisten. Und das geht am besten im Handwerk. Kennenlernen kann man das zum Beispiel mit einem Praktikum in einem Betrieb, der Solarfelder oder Windräder aufbaut. Oder der Ladesäulen für E-Autos oder energieeffiziente Gebäudetechnik installiert. Möglich ist Klimaschutzarbeit bereits heute in etwa 450.000 Handwerksbetrieben, in denen fast 2,5 Millionen Beschäftigte in knapp 30 Gewerken täglich solche Energie-, Umwelt- und Klimaschutzaufgaben umsetzen. Aber wir brauchen da eben auch und noch mehr Nachwuchs. Ohne ihn kommen wir mit dem Klimaschutz nicht voran. Interview:
Christian Grimm und Stefan Lange
● Hans Peter Wollseifer, 66, aus Hürth bei Köln ist gelernter Maler und Lackierermeister und übernahm als 21Jähriger nach dem Tod des Vaters den elterlichen Betrieb. Seit 2014 ist er Präsident des Zentral verbands des Deutschen Handwerks.