Mittelschwaebische Nachrichten
Gigant ohne Gold
Handball Uwe Gensheimer führte die Nationalmannschaft als Kapitän jahrelang an, stellte Bestmarken auf und brach Rekorde. Nun verabschiedet er sich, allerdings ohne Titel
Mannheim Mama Marcela bekam den Brief zuerst in die Hand. Doch sie öffnete den Umschlag nicht, sondern legte die Post vom Deutschen Handballbund (DHB) erst einmal auf den Dielenschrank zu Hause im Mannheimer Stadtteil Friedrichsfeld. Ganz so, wie sich das für eine fürsorgliche Mutter gehört. Der Brief war ja schließlich nicht für sie bestimmt, sondern an ihren Sohn gerichtet, einen damals noch recht unbekannten Herrn namens Uwe Gensheimer. Doch der war gerade nicht da.
Der junge Mann weilte im Herbst 2005 in der Schule, als der Postbote kam. Das Abitur, es sollte, es musste noch am Ludwig-Frank-Gymnasium gemacht werden. Denn wer weiß, ob das was mit der HandballKarriere wird. Vor knapp 16 Jahren vermochte das ja nun wahrlich niemand seriös zu prognostizieren. Das Talent, klar, das war unverkennbar. Aber ein vernünftiger Schulabschluss, der kann im Notfall helfen.
Das mit der Profi-Laufbahn, das klappte dann aber in der Tat ganz gut für diesen damals so unbekümmert auftrumpfenden Gensheimer, der übrigens nicht erst nach Hause kommen musste, um von seiner erstmaligen Nominierung für die deutsche Nationalmannschaft zu erfahren. Die gute Nachricht erreichte ihn bereits in der Pause auf der Penne – und als er davon hörte, strahlte der damals 19-Jährige: „Das ist fantastisch.“Elf Tage später nahm ihn in der Lemgoer Lipperlandhalle der legendäre Bundestrainer Heiner Brand im Länderspiel gegen Slowenien nach 23 Spielminuten großväterlich in den Arm und schickte den
Linksaußen aufs Feld. Das Talent machte sofort auf sich aufmerksam. Nur anders als gedacht. Es führte sich mit einer Zeitstrafe ein, was man als weniger gelungen bezeichnen darf. Der Mannheimer durfte danach aber trotzdem wiederkommen. Und zwar ziemlich oft.
Auf sein erstes Länderspiel folgten noch 203 (!) weitere Einsätze mit dem Bundesadler auf der Brust. Mehr noch: Er wurde zum Gesicht des deutschen Handballs, zum verehrten Liebling der Massen, zum Kapitän der Nationalmannschaft, zum vierfachen Handballer des Jahres. Nur einen 205. Einsatz für Deutschland wird es nicht mehr geben. Das teilte der Star des Bundesligisten Rhein-Neckar Löwen am Donnerstag mit.
„Nationalspieler zu werden, war ein Kindheitstraum. Den Adler auf der Brust zu tragen und Kapitän der Nationalmannschaft zu sein, war für mich eine riesige Ehre. Ich blicke mit Stolz und Dankbarkeit auf eine lange Zeit beim Deutschen Handballbund zurück und werde die damit verbundenen Erlebnisse niemals vergessen“, sagt Gensheimer, der Rekorde in der DHB-Auswahl aufstellte und in sämtlichen Bestenlisten zu finden ist. Niemand erzielte mehr WM-Treffer für Deutschland, in der ewigen Torschützenliste belegt der 34-Jährige mit 921 Treffern Rang drei. Bei der Anzahl der Länderspieleinsätze steht er unter den besten 20. Kurzum: Der Mannheimer setzte dank seiner Extraklasse viele persönliche Ausrufezeichen, nur ein Titel mit der Nationalmannschaft blieb ihm verwehrt.
Bei der EM 2016 holten die Handballer zwar sensationell Gold, doch ausgerechnet in diesem Jahr fehlte Gensheimer verletzt. Der historische Coup von Krakau gelang ohne den Anführer. Das hat eine gewisse Tragik, erst recht in der Rückbetrachtung. Denn nach so vielen Jahren steht in der ansonsten so makellosen Vita des Mannheimers mit der Nationalmannschaft „nur“Olympia-Bronze 2016, weshalb die Geschichte der schillernden Karriere des Uwe Gensheimer auch immer eine Story ist, die von zwei Wegen handelt. Der erfolgreiche mit seinen Klubs Rhein-Neckar Löwen und Paris Saint-Germain, mit denen er Titel gewann. Und der schwierige mit der Nationalmannschaft, weil dieser Verbindung das ganz große Glück fehlte. Dabei war genau das Gensheimers Sehnsucht, sein selbst ernanntes „großes Ziel“, dem der vom Ehrgeiz Getriebene konsequent hinterherrannte.
„Einen Titel mit der Nationalmannschaft zu erringen, das will ich noch schaffen“, sagte der Gigant mit dem Gummigelenk stets vor jedem Turnier – und demonstrierte dabei immer seinen unerschütterlichen Glauben sowie seine feste Überzeugung, dass das noch klappen wird. Nun steht fest, dass es nicht klappen wird, dass dieser eine Wunsch unerfüllt bleibt, was seine DHB-Karriere ein wenig unvollendet enden lässt. Denn es fehlt der ultimative
Helden-Moment, der Triumph mit dem Team, das als Zugpferd des deutschen Handballs gilt – und in dem der Weltklasse-Linksaußen nicht immer nur gute Zeiten erlebte. Denn Gensheimer und die DHBAuswahl, diese Beziehung ist auch von einer gewissen Tragik, in einem bestimmten Moment sogar von großer Traurigkeit und gleichzeitiger Tapferkeit geprägt.
Kurz vor der Weltmeisterschaft 2017 in Frankreich starb sein Vater Dieter. Gensheimer spielte trotzdem die WM, verließ zwischendurch das Quartier in Rouen für die Beerdigung und kehrte zurück. Wenige Tage nach dem plötzlichen Tod seines geliebten Papas stand er im Eröffnungsspiel gegen Ungarn auf dem Feld – und avancierte mit 13 Toren zum überragenden Mann auf dem Feld. Es war an jenem Abend eine unmenschliche Leistung, weil Gensheimer nicht nur stark spielte, sondern auch stark blieb. In einem Augenblick der Tränen und der Trauer, in dem – wie so oft in seinem Leben – seine Familie eine wichtige, sogar entscheidende Rolle spielte. Sie bestärkte ihn, an der WM teilzunehmen: „Meine Mutter und mein Onkel haben gesagt: ,Dein Papa hätte gewollt, dass du spielst.‘“Also streifte sich Gensheimer das DHB-Trikot über. So wie er es immer tat. Auch wenn ihm das diesmal nicht leichtfiel.
Die Handball-Welt verneigte sich in diesem kalten Januar 2017 vor dem deutschen Kapitän. Das Mitgefühl, der Respekt, die Bewunderung – alles war riesengroß. Weil der Ausnahmespieler diese Ausnahmesituation annahm, diesen Schmerz in sich trug. Und trotzdem seine Mannschaft anführte.