Mittelschwaebische Nachrichten
Eine Nacht allein im Regen
Hans Habicht ist 84 Jahre alt und wollte eigentlich nur bis zur Kirche und zurück spazieren. Doch er kam nicht wieder und wurde viele Stunden lang gesucht. Was war passiert?
Hans Habicht ist 84 Jahre alt und wollte eigentlich nur bis zur Kirche und zurück spazieren. Doch er kam nicht wieder. Was war passiert?
Günzburg Ständig kamen Züge angerauscht, schnell und laut. Jedes Mal hat sich Hans Habicht dann ins Gras geworfen, um sich zu schützen. War der Zug vorbei, rappelte er sich wieder auf, nahm seinen Rollator und ging weiter. Über Stock und Stein, mitten in der Nacht, im Dauerregen. Immer wieder erzählt Habicht davon, dass er große Angst vor den Zügen gehabt habe – und offenbar setzte diese Angst, anders kann es sich seine Frau Ilse Habicht kaum vorstellen, so viele Kräfte frei, dass Habicht letztlich ganze sechs Kilometer zurückgelegt hat. „Diese sechs Kilometer hat ihm niemand zugetraut. Er hat eine Muskelerkrankung und kommt eigentlich nicht so weit“, erzählt Ilse Habicht, die viele anstrengende Tage und Nächte hinter sich hat. Zwar habe sie mit ihren 82 Jahren schon viel erlebt, „aber so etwas noch nicht“. Einen solchen Schock, eine Fahndung mit etlichen Mithelfern – und letztlich eine glückliche Botschaft, mit der kaum noch einer gerechnet hatte. Es war der 31. Juli, die Habichts haben einen schönen Tag draußen in ihrem Garten verbracht. Hans Habicht, der viele Jahre am Dossenberger-Gymnasium unterrichtet hat, ist 84 Jahre alt und mittlerweile auf die Hilfe seines Sohnes Martin und seiner Schwiegertochter angewiesen. Auch an diesem Samstag waren sie da, alle gemeinsam verbrachten sie unbeschwerte Stunden an der frischen Luft. „Abends haben wir noch die Nachrichten geschaut und dann meinte mein Mann, er wolle sich noch etwas bewegen“, erzählt Ilse Habicht, während sie die Hand ihres Gatten drückt.
Die Habichts wohnen schon seit mehr als 40 Jahren in der Zankerstraße in Günzburg, ganz hinten, abgeschieden und in Ruhe. Perfekt für einen kurzen Spaziergang mit dem Rollator, wie ihn Hans Habicht noch gerne macht. Bis zur Martinskirche nach vorn und zurück – weiter wollte er auch dieses Mal nicht gehen. „Aber er kam nicht wieder“, so Ilse Habicht, die deswegen ihre Kinder verständigt und um Rat gefragt hat. „Ich hätte selbst suchen wollen, aber mit meinen Stöcken komme ich nicht mehr weit, das hätte nichts gebracht“, erklärt sie.
Als die Dämmerung einsetzte, riefen sie bei der Polizei an. Schon zehn Minuten später waren die ersten Beamten da und bestätigten, dass die Habichts mit ihrer Meldung alles richtig gemacht hätten. Es war der Anfang einer Stunden andauernden und nervenzehrenden Suchaktion. Und vor allem war es laut den Habichts eines: großartig organisiert. „Es war ein Traum, wie die Einsatzkräfte gearbeitet haben, einfach beeindruckend“, erzählt Martin Habicht. Mit einer Karte und einem genauen Plan wurden zunächst sämtliche Gärten, Keller und Hütten in der näheren Umgebung durchkämmt, viele Nachbarn halfen und mit jeder Stunde kamen weitere Einsatzkräfte dazu. „Das ging Schlag auf Schlag, mitten in der Nacht und bei strömendem Regen kam dann auch die Hundestaffel an“, so Martin Habicht. Am Himmel kreiste bald ein Helikopter mit Wärmebildkamera, die Drohneneinheit wurde hinzugezogen, bald auch die Wasserwacht, weil es gut möglich gewesen wäre, dass Hans Habicht ins Wasser gefallen war.
Stattdessen war er entlang der Bahngleise in Richtung Leipheim unterwegs. „Ich habe bei der Martinskirche einen Mann gesehen, der links abgebogen ist. Da wollte ich auch hin und bin hinterher. Aber auf einmal war der Mann weg und ich alleine“, erzählt Hans Habicht. Gelandet war er auf einem Weg, den die Habichts, die einst immer gerne spazieren gegangen sind, noch nie ausgewählt haben – nur wenige Meter von den Bahngleisen entfernt. Blaue Flecken an beiden Armen zeugen noch von den vielen Stürzen, die Hans Habicht aus Todesangst in Kauf genommen hat, um nicht von einem Zug erfasst zu werden.
Zeitgleich verlor seine Familie mit jeder Stunde etwas Hoffnung auf einen guten Ausgang der Geschichte. „Es war mir so wichtig, dass sie ihn finden. Ich habe mich die ganze Zeit zurückgehalten, dass ich nicht durchdrehe“, beschreibt Ilse Habicht. Das ganze Haus war voll, erst morgens um fünf wurde die Suchaktion abgebrochen. Allerdings nur für zwei Stunden, am Sonntag um sieben ging es weiter. Mittlerweile hatte die Polizei auch im Internet alle Hebel in Bewegung gesetzt, sogar Hans Habichts Enkelin auf ihrer Urlaubsreise in Italien bekam von der Fahndung mit und brach die Ferien ab, Habichts zweiter Sohn aus dem Schwarzwald und andere Familienangehörige waren ebenfalls längst da. Pfarrer und Seelsorger waren zur Unterstützung vor Ort und letztlich war es unendlich großes Glück, dass am Sonntagnachmittag auf einmal im ganzen Haus Jubel ausgebrochen ist: Ein Lokführer hatte den Rollator an den
Gleisen liegen sehen, woraufhin Hans Habicht, leicht unterkühlt zwar und voller Gras, gefunden werden konnte – in Leipheim auf Höhe der Kläranlage.
„Ich habe ihn ins Krankenhaus gebracht, dort mussten die Mitarbeiter erst mal hinter uns herfegen, weil er voller Gras war“, erzählt Martin Habicht, mittlerweile sichtlich erleichtert. Für eine Nacht blieb sein Vater zur Beobachtung im Krankenhaus, dann ging es wieder nach Hause, aufs vertraute Sofa. Zwei Tage lang hat Hans Habicht fast nur geschlafen, weil ihn der Fußmarsch so sehr angestrengt hat. Auch jetzt, einige Tage später, klagt er noch über Schmerzen beim Laufen. „Alles geht jetzt etwas langsamer“, sagt er. Trotzdem aber wirkt er dankbar und sehr glücklich, erfreut sich an seinem Appetit und daran, dass er wieder Bücher und Zeitung lesen kann. „Ich bin langsam wieder der, der ich war.“