Mittelschwaebische Nachrichten
Der letzte König von Sachsen
Wie es der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf schaffte, vom Westimport zum allseits beliebten und geschätzten Herrn im Freistaat des Ostens zu werden. Ein persönlicher Nachruf unseres Korrespondenten
Dresden In Dresden steht der Goldene Reiter. Es ist eine Statue des berühmten Sachsen-Herrschers August, genannt der Starke. Zu OstZeiten gab es einen Spruch, der den SED-Oberen nicht gefallen hat: „Lieber August, steig‘ hernieder und regiere Sachsen wieder. Lass in diesen schweren Zeiten, lieber mal den Erich reiten.“Nachdem der Erich (Honecker) ausgeritten hatte, bekamen die Sachsen noch einmal einen König. Er stammte aus dem „Ausland“– jedenfalls aus ostdeutscher Sicht – und er hatte eigentlich schlechte Karten, die Herzen seiner Sachsen zu erobern. Denn er war Wessi und dazu noch ein besserwisserischer Wirtschaftsprofessor. Doch Kurt Biedenkopf gelang es, dass ihn die Leute auf den Sockel hoben. Aus dem Ministerpräsidenten wurde König Kurt. Wie hat er das geschafft?
Ich erinnere mich an einen Auftritt Biedenkopfs in meiner Heimatstadt Zwickau. Großer Auflauf, Händeschütteln, das Klicken der Kameras. Ich war damals als junger Reporter für die Heimatzeitung
unterwegs und sprach mit einem Bäckermeister, der aus seiner Backstube eine Großbäckerei gemacht und dem Biedenkopf einige Minuten geschenkt hatte. Er sagte mir mit freudestrahlendem Gesicht, dass mit Biedenkopf endlich mal wieder ein Politiker von „Lehrlingen“
gesprochen habe. Die anderen würden immer Auszubildende sagen. Das Wort gefiel dem Bäckermeister nicht.
In dieser Anekdote steckt viel von dem, was den Erfolg des Politikers Kurt Biedenkopf ausmachte. Arbeitsplätze und ein gesellschaftlicher Konservatismus nach dem sozialistischen Experiment mit dem neuen Menschen. In den 1990er Jahren war Arbeit Mangelware. Der Wende-Euphorie folgte eine tiefe Depression. Die Arbeitslosigkeit lag zwischen 15 und 18 Prozent. Neue Jobs waren der Gradmesser für jeden Politiker im Osten. Und Biedenkopf gelang es, die abgewirtschaftete Staatsökonomie der DDR von Grund auf umzubauen und Unternehmen anzusiedeln. VW, Siemens, BMW – Biedenkopfs Leuchtturmpolitik holte klingende Namen nach Sachsen. Abseits ihrer Leuchtkegel blieben die Löhne mager. Doch ohne Biedenkopfs Kontakte als ehemaliger CDU-Generalsekretär in die Spitze von Staat und Wirtschaft wären die Konzerne womöglich nicht gekommen. Ein Ostdeutscher konnte da allein aus biografischen Gründen nicht mithalten.
In seinem Auftreten verströmte König Kurt den klassischen Konservatismus Bonner Prägung. Ehefrau Ingrid winkte brav an seiner Seite dem Volke zu. Biedenkopf war bereits 60 Jahre alt, als ihm die Aufgabe und Ehre zuteil wurde, ein Land zu regieren. Die Krawatte schien an ihm festgewachsen, genauso fest verankert wie das enorme Selbstbewusstsein.
Biedenkopf war aber das Gegenteil des gemütlichen Onkels aus dem Westen. Die Leute sollten ihr Leben selbst in die Hand nehmen und etwas daraus machen, genau wie er. An die Stelle von Staat und Partei trat der Einzelne und seine Freiheit, was viele gelernte DDR-Bürger überforderte. Um jene kümmerte sich die PDS. Irgendwie gelang es Biedenkopf trotz der Härten des real existierenden Kapitalismus, sein Selbstbewusstsein auf die Menschen zu übertragen. Der Erfolg der Ansiedlungen, die Renaissance von Elbflorenz, die funkelnde Anziehungskraft von Leipzig (so sexy wie
Berlin) und ein gutes Bildungssystem waren das Gegenteil zu Industrieruinen und Jammer-Ossis.
Biedenkopf wirkte aber nicht nur als König, sondern auch als Therapeut. Er redete den Leuten überzeugend ein, dass sie etwas Besonderes seien. Er kitzelte damit die Seele der Sachsen, die sich selbst gern attestieren, kommunikativ („vischelant“) und asterix-schlau („mir sin‘ nich bleede“) zu sein. Dass die Schülerinnen und Schüler bei uns in Sachsen besser abschneiden als die in Bayern, erschien jedem nur folgerichtig. Im eigenen Selbstverständnis ist es vollkommen logisch, nicht hinter einem Volk liegen zu können, das Lederhosen trägt und sich bei einem Tanz auf
Schenkel und Waden haut. Im Grunde genommen kopierte König Kurt das „mia san mia“und übertrug es auf die Sachsen. Das funktionierte nur, weil das Land – genau wie Bayern – seit Jahrhunderten als kulturelle Einheit besteht. Freistaat eben. „Mia san mia“macht im Bindestrich Bundesland NordrheinWestfalen keinen Sinn.
Die Schattenseite ist die weit verbreitete Abneigung gegen Fremde. Die Sachsen seien immun gegen den Rechtsextremismus, behauptete Biedenkopf – und lag damit falsch. Es ist das dunkle Erbe seiner Regentschaft, die das Land heute aufwühlt und spaltet.
Zum 30. Jubiläum der Wiedergründung Sachsens hatte König Kurt mit seiner Ingrid im vorigen Jahr noch einmal einen großen Auftritt. Da war er schon viele Jahre Monarch a.D. und sichtbar alt geworden. Die Skandale der Vergangenheit, die Biedenkopfs Regentschaft zahlreich pflastern, hatte da bereits der Nebel der Geschichte geschluckt. Ob privat genutzte Dienstwagen, Staatsgelder für einen Duz-Freund oder der Versuch, bei Ikea einer Verkäuferin einen Rabatt abzuschwatzen – nur wenige Könige sind ohne Fehl und Tadel. August der Starke hätte über solche Petitessen gelacht.
Kurt Biedenkopf starb am Donnerstagabend im Alter von 91 Jahren. Er sei im Kreise seiner Familie friedlich eingeschlafen.