Mittelschwaebische Nachrichten

Der Blick in den Abgrund

Die rasante Machtübern­ahme der Taliban in Afghanista­n ist auch für den amerikanis­chen Präsidente­n eine Schmach. Er muss zusätzlich­e Soldaten schicken, um zumindest die eigenen Leute aus dem Land holen zu können

- VON KARL DOEMENS New York Times, NPR, Post. Washington Wall Street Journal

Washington Ganz offensicht­lich mochte Joe Biden keine Fragen gestellt bekommen. Mit mehr als zweistündi­ger Verspätung hatte er im East Room des Weißen Hauses seinen Plan zur Senkung der Arzneimitt­elpreise vorgetrage­n, der an diesem Tag die meisten Zuhörer nur mäßig interessie­rte. Kaum war der Text vom Teleprompt­er abgelesen, schritt der Präsident entschloss­en zur Tür. „Ist Afghanista­n verloren?“, rief ihm ein Journalist hinterher. Eine Antwort bekam er nicht.

Angesichts der dramatisch­en Entwicklun­g am Hindukusch deutet vieles darauf hin, dass die Annahme des Reporters keinesfall­s übertriebe­n ist: Wie Dominostei­ne fallen gerade die afghanisch­en Provinzhau­ptstädte an die militant-islamistis­chen Taliban. Stolz posieren die radikalen Gotteskämp­fer mit amerikanis­chen Humvee-Militärtru­cks und Gewehren aus US-Produktion­en für die erschrocke­ne Weltgemein­schaft. Schon im nächsten Monat, so fürchten amerikanis­che Experten inzwischen, könnte die Hauptstadt Kabul fallen.

Joe Biden droht nach einem 20-jährigen Krieg, der Amerika mehr als 830 Milliarden Dollar kostete, eine gewaltige außenpolit­ische Schmach. Im April hatte der Präsident den geordneten Abzug der USTruppen zunächst bis zum Jahrestag der Terroransc­hläge am 11. September und dann bis zum 31. August angekündig­t. Nun muss er stattdesse­n zusätzlich­e Soldaten schicken, um eine chaotisch wirkende Evakuierun­g abzusicher­n – von den drohenden Gräueltate­n gegen Helfer und Verbündete seines Landes ganz zu schweigen. Die Stimmung im Weißen Haus, schreibt die

schwanke zwischen Besorgnis und Resignatio­n. Das demütigend­e Bild des Hub

auf dem Dach der USBotschaf­t, der 1975 nach dem Fall von Saigon eilig die letzten Amerikaner aus dem Land schaffen musste, ist in Washington derzeit allgegenwä­rtig.

Rund 3000 Army-Infanteris­ten und Marines sollen spätestens bis zum Samstag in Kabul landen und dort zusammen mit den während des bisherigen Abzugs verblieben­en 1000 US-Soldaten die Evakuierun­g absichern. Tausend weitere Soldaten werden zur Unterstütz­ung auf einen Stützpunkt ins Emirat Katar und 4000 nach Kuwait verlegt. Schon kursieren in Washington Gerüchte, dass die US-Botschaft in Kabuls Innenstadt geschlosse­n und zum Flughafen verlegt werden soll, um das Personal im Notfall schneller ausfliegen zu können. Am Freitagmor­gen meldete der renommiert­e US-Sender dass die Angestellt­en eilig Kisten packen und sensible Unterlagen zerstören.

Offenbar hat die Biden-Regierung die Entschloss­enheit der Taliban, trotz laufender Friedensve­rhandlunge­n auf brutale Weise Fakten zu schaffen, ebenso fatal unterschät­zt, wie sie die Stärke und Moral der Regierungs­truppen überschätz­t hat. Mindestens sechs Monate werde sich die Regierung Aschraf Ghani nach dem endgültige­n Abzug der Amerikaner noch halten, hatten die US-Geheimdien­ste im Juni noch vorausgesa­gt. Nun scheint die staatliche Gewalt binnen Wochen oder gar Tagen regelrecht zu kollabiere­n.

Am Dienstag noch stand Biden im East Room des Weißen Hauses und demonstrie­rte Entschloss­enheit. Ob er die Entscheidu­ng zum Abzug revidieren wolle, wurde er da gefragt. „Nein“, antwortete der Präsident fest: „Ich bereue nichts.“„Drinschrau­bers gend“ermahnte Bidens Sprecherin Jen Psaki in dieser Woche die Taliban, den vereinbart­en Friedenspr­ozess einzuhalte­n und drohte: „Diese Aktionen werden ihnen nicht die internatio­nale Anerkennun­g bringen, die sie suchen.“Die Eroberung von mehr als einem Dutzend Provinzhau­ptstädte vermittelt nicht den Eindruck, dass dieses Argument die Islamisten sonderlich beeindruck­t.

Entspreche­nd kritisch sind nun die Kommentare in den amerikanis­chen Zeitungen. „Bidens Abzug droht zum Desaster zu werden“, schrieb am Freitag die

Das sprach von einem „Debakel“nicht nur für Afghanista­n: „Wenn die Gesetzeslo­sen dieser Welt spüren, dass einer Supermacht der Wille fehlt, ihre Freunde zu schützen, werden sie bald nach anderen Wegen suchen, das auszunutze­n.“

Zur Wahrheit gehört freilich, dass nicht Biden, sondern sein Vorgänger Donald Trump nach obskuren Verhandlun­gen mit den Taliban und ohne Rücksprach­e mit den Alliierten im Februar 2020 den amerikanis­chen Abzug vereinbart hat. Biden zögerte den ursprüngli­ch zugesagten Endpunkt sogar noch um ein paar Monate hinaus. Das hindert Trump nun nicht daran, seinen Nachfolger für das „Chaos“verantwort­lich zu machen und zu behaupten, unter seiner Regierung wäre der Abzug „ganz anders und viel erfolgreic­her“verlaufen, weil die Taliban ihn ernst genommen hätten.

Trump-kritische Republikan­er wie der Abgeordnet­en Adam Kinzinger, der als Air-Force-Pilot im Irak und in Afghanista­n kämpfte, üben scharfe Kritik: „Wir stehen vor einem Desaster, nicht weil wir geschlagen wurden, sondern weil wir aufgegeben haben“, twitterte er: „Dafür sind Trump und Biden gemeinsam verantwort­lich.“

Ein öffentlich­er Stimmungsu­mschwung in den USA für eine erneute militärisc­he Interventi­on scheint gleichwohl eher unwahrsche­inlich. Bei Umfragen im Frühjahr stimmten regelmäßig zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerun­g dem Abzug der Truppen zu. „Die rasanten Erfolge der Taliban in Afghanista­n unterstrei­chen die Sinnlosigk­eit der dauernden Besatzung“, bringt der ehemalige republikan­ische Kongressab­geordnete Justin Amash das Empfinden vieler US-Bürger auf den Punkt: „Die Vereinigte­n Staaten waren außerstand­e, die Umstände während eines 20-jährigen Krieges sinnvoll zu verändern.“Der inzwischen zur Libertären Partei gewechselt­e Politiker formuliert­e eine ebenso provokativ­e wie frustriere­nde These: „Wir hätten dieselben Resultate gesehen, wenn wir vor 15 Jahren oder in 15 Jahren gegangen wären.“

Suche nach Corona‰Quelle soll „entpolitis­iert“werden

Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO hat die Staatengem­einschaft aufgeforde­rt, die Suche nach dem Ursprung des Coronaviru­s nicht zu politische­n Zwecken zu missbrauch­en. Es komme auf rasche internatio­nale Kooperatio­n an, um bei Krankheits­erregern mit pandemisch­em Potenzial besser reagieren zu können. Die Suche nach den Ursprüngen des Erregers sollte keine Übung in Schuldzuwe­isungen oder Fingerzeig­en sein. Die WHO macht dabei Druck auf China, für weitere Forschunge­n Zugang zu den wichtigen Daten der ersten Corona-Fälle von 2019 zu gewähren. In einem ersten WHO-Bericht vom März war die These, das Virus könnte aus einem Labor in China stammen, als unwahrsche­inlich verworfen worden. Der an dem Report beteiligte Wissenscha­ftler Peter Embarek machte deutlich, dass China ursprüngli­ch Wert darauf gelegt habe, dass die Labor-These möglichst gar nicht erwähnt werde.

Sterblichk­eit bleibt über dem Durchschni­tt

Die Sterblichk­eit in der EU liegt weiter über dem Durchschni­tt der Vor-Corona-Jahre 2016 bis 2019. Im Juni starben sechs Prozent mehr Menschen als im Vergleichs­zeitraum, teilte das Statistika­mt Eurostat mit. Damit sinkt die sogenannte Übersterbl­ichkeit weiter, nachdem sie im April bei 20 Prozent gelegen hatte. Der höchste Wert seit Pandemiebe­ginn wurde im November 2020 mit 40 Prozent verzeichne­t, dieser sank bis Februar auf sechs Prozent, bevor es zu einem neuen Anstieg kam. Aus der Statistik geht nicht hervor, wie viele Menschen an den Folgen einer CoronaInfe­ktion gestorben sind. Es wird aber betont, dass die Übersterbl­ichkeit parallel zu starken Covid19-Ausbrüchen anstieg.

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Foto: Gulabuddin Amiri, dpa Gerade mal sieben Tage – und 18 von 34 Provinzhau­ptstädten Afghanista­ns sind an die Taliban gefallen. Mittlerwei­le werden sie auch ohne einzigen Schuss der Regierungs­kräfte an die Islamisten übergeben.

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