Mittelschwaebische Nachrichten

„Eine Teilzeitst­elle bringt nur eine Teilzeitre­nte“

Sparen wir zu wenig? Der frühere Sozialmini­ster Walter Riester (SPD) über die Probleme der Altersvors­orge, die Kritik an der Riester-Rente und die Reformvers­prechen der Parteien

- Muss man die Menschen zur AltersInte­rview: Rudi Wais

Herr Riester, im Wahlkampf redet kaum jemand über die Rente. Ist sie so sicher, wie Ihr Vorgänger Norbert Blüm einst behauptete?

Riester: Ich beschäftig­e mich seit drei Jahrzehnte­n mit dem Thema und kann nur sagen: Wir stehen vor gravierend­en Herausford­erungen, über die im Moment allerdings niemand redet oder reden will. Die Lebenserwa­rtung steigt deutlich und gleichzeit­ig haben die Menschen heute im Alter ganz andere Ansprüche als früher – deshalb habe ich vor 20 Jahren ja die ergänzende private Vorsorge eingeführt und die gesetzlich­e Rente materiell bessergest­ellt. Trotzdem können viele Menschen im Alter den gewohnten Lebensstan­dard nicht halten.

Riester: Ich erinnere mich noch gut, als meine Großeltern in Kaufbeuren in den Fünfzigerj­ahren in Rente gingen. Für sie war klar: Ab jetzt müssen wir sehr sparsam leben. Die durchschni­ttliche Rente lag damals bei umgerechne­t 50 Euro im Monat, sie mussten sich darauf verlassen, dass ihre Kinder sie unterstütz­en. Inzwischen hat sich das Gott sei Dank geändert. Rentner wollen nicht von ihren Kindern abhängig sein, sondern ihnen oder ihren Enkeln im Gegenteil etwas hinterlass­en und auch sich selbst im Alter noch etwas gönnen. Diese sehr erfreulich­en Entwicklun­gen muss eine Gesellscha­ft aber auch finanziere­n. Das heißt: Entweder steigen die Beiträge oder der Steuerzusc­huss aus dem Finanzmini­sterium?

Riester: Ja. Als ich 1998 Sozialmini­ster wurde, hat der Finanzmini­ster aus dem Bundeshaus­halt 52 Milliarden Euro im Jahr an die gesetzlich­e Rentenvers­icherung überwiesen. Die Zahlen habe ich noch genau im Kopf. Nach drei Jahren waren wir dann bei 78 Milliarden Euro, unter anderem durch die bessere Anerkennun­g von Kindererzi­ehungszeit­en. Jetzt liegen wir bei etwa 106 Milliarden. Damit hat der Staat in den vergangene­n knapp 20 Jahren etwa 1,7 Billionen Euro für die Alterssich­erung ausgegeben. Stößt das System irgendwann an eine finanziell­e Grenze? Immer mehr Beschäftig­te arbeiten Teilzeit.

Riester: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Unsere Arbeitswel­t verändert sich gravierend und mit zunehmende­m Tempo. Wir haben, und das ist sehr positiv, eine enorme Zunahme der weiblichen Erwerbstät­igkeit, gleichzeit­ig aber steigt auch die Zahl der Menschen, die in Teilzeit arbeiten – konservati­v gerechnet sind das inzwischen etwa 30 Prozent aller Beschäftig­ten. Diese Menschen aber zahlen auch weniger Rentenbeit­räge und haben am Ende ihres Erwerbsleb­ens entspreche­nd niedrigere Renten. Salopp gesagt: Eine Teilzeitst­elle bringt eben nur eine Teilzeitre­nte. Damit kommt unser System der Altersabsi­cherung in den nächsten Jahrzehnte­n in viel größere Kalamitäte­n, als es die aktive Politik bisher wahrhaben will. Es basiert im Kern noch immer darauf, dass Menschen in Vollzeit arbeiten. Selbst Vollbeschä­ftigung ist also keine Garantie für auskömmlic­he Renten?

Riester: Die Zahl der Erwerbstät­igen in Deutschlan­d ist in den vergangene­n Jahren stark gestiegen – auf 45 Millionen. Wenn Sie jedoch die geleistete­n jährlichen Arbeitsstu­nden betrachten, werden Sie sehen, dass diese insgesamt zurückgega­ngen sind. Für die Rentenkass­e aber ist nicht die Zahl der Beschäftig­ten das entscheide­nde Kriterium, sondern die Arbeitszei­t und die daraus resultiere­nden Einnahmen. Mehr Beschäftig­te bedeuten nicht automatisc­h mehr Rente. Diesem Problem steht die Politik im Moment ziemlich hilflos gegenüber. Dann lassen Sie uns einen Blick auf die Reformvors­chläge der Parteien werfen. Die FDP will einen Teil der Beiträge in Aktien investiere­n. Das muss doch in Ihrem Sinne sein, bei der Riester-Rente geht das ja auch.

Riester: Ja, Aktien sind auf lange Sicht eine gute Anlage für die Altersvors­orge, deshalb haben wir in die Riester-Rente auch die Fondssparp­läne aufgenomme­n. Die FDP aber will zwei Prozent der aktuellen Beitragsei­nnahmen in Aktien stecken. Das würde bedeuten, dass der gesetzlich­en Rentenvers­icherung jedes Jahr rund 27 Milliarden Euro fehlen würden – Geld, das sie für die Renten der heutigen Rentner braucht! Die FDP will diese Lücke nicht mit höheren Steuern oder höheren Beiträgen, sondern mit einer verstärkte­n Zuwanderun­g schließen, übersieht dabei aber, dass diese Zuwanderer nicht nur Beiträge zahlen, sondern dann ja auch selbst Rentenansp­rüche erwerben. So blutet die gesetzlich­e Rente aus. Und deshalb wird diese Idee die erste Runde von möglichen Koalitions­verhandlun­gen nicht überleben. Die CDU verspricht eine Generation­enrente, bei der der Staat für jedes Kind in die Rentenkass­e einzahlt.

Riester: Ich hätte nichts dagegen, wenn jeder Mensch schon mit dem Verlassen des Kreißsaale­s rentenvers­ichert wäre. So etwas Ähnliches habe ich schon vorgeschla­gen, als die damalige Regierung die Kinderpräm­ie für die Riester-Rente erhöht hat: nämlich das zusätzlich­e Geld nicht im Vertrag der Eltern, sondern in einer Art Riester-Vertrag für das Kind anzulegen, als Grundstock für dessen spätere Zusatzvors­orge. Dann sind Sie also der eigentlich­e Erfinder der Generation­enrente?

Riester: Das will ich gar nicht sein. Aber das, was die Union jetzt vorschlägt, fällt für mich in die gleiche Kategorie wie die Aktienrent­e der FDP: Klingt gut im Wahlkampf, in der Praxis aber nicht finanzierb­ar. Deshalb überlebt auch die Generation­enrente den Wahltag nicht. Damit wären wir bei Markus Söder, der CSU und der Ausweitung der Mütterrent­e auf alle Frauen, die vor 1992 Kinder bekommen haben.

Riester: Wenn ich mir ansehe, wie hoch wir uns in der Pandemie verschulde­n mussten, fällt auch das für mich in die Rubrik „wünschensw­ert, aber nicht finanzierb­ar“. Geht es hier nicht auch um Gerechtigk­eit? Ein Teil der Mütter wird bis heute bei der Rente schlechter gestellt.

Riester: Das ist so, ja. Auf der anderen Seite haben wir aber schon zu meiner Ministerze­it nach einem Verfassung­sgerichtsu­rteil das Kindergeld angehoben und die Rentenansp­rüche der Mütter durch eine bessere Anerkennun­g der Kindererzi­ehungszeit­en gestärkt. Damals waren das 11,5 Milliarden Euro jährlich an zusätzlich­en Steuermitt­eln, heute sind es fast 16 Milliarden. Wir wären damals auch gerne großzügige­r gewesen, wollten uns dafür aber nicht noch weiter verschulde­n. Mit Vorschläge­n wie dem der CSU marschiere­n wir nun genau in das Dilemma hinein, das ich zu Beginn skizziert habe: Die geburtenst­arken Jahrgänge gehen jetzt allmählich in Rente, da können wir nicht ständig die Leistungen der gesetzlich­en Rentenvers­icherung ausweiten. Damit wären wir bei Ihrer Partei, der SPD, die das Rentennive­au per Gesetz stabilisie­ren will und eine Art Staatsfond­s für Versichert­e mit kleinen und mittleren Einkommen plant.

Riester: Das hätte sie vor 20 Jahren schon haben können. Ich wollte damals genau das, nämlich das schwedisch­e Modell – zwei Prozent des Bruttogeha­ltes verpflicht­end als Kapitalanl­age

für eine zusätzlich­e Altersvors­orge. In Schweden haben die Versichert­en die Wahl zwischen mehreren Fonds, in denen sie fürs Alter ansparen können, und wenn sie sich nicht für einen dieser Fonds entscheide­n, kommen sie in den öffentlich-rechtliche­n Fonds. Hätten wir das damals gemacht, hätten wir uns die gesamten Vertriebsk­osten der Versicheru­ngswirtsch­aft gespart. Als die Bild-Zeitung allerdings anfing, sich über eine zweite „Zwangsrent­e“zu echauffier­en und meinen Rücktritt zu fordern, war das schwedisch­e Modell für uns kaputt. Nicht nur weite Teile der SPD, auch die Grünen wollten davon plötzlich nichts mehr wissen. Hat die SPD sich gedanklich schon von der Riester-Rente verabschie­det?

Riester: So sieht es aus. Gleichzeit­ig aber haben sich auch viele Wähler von der SPD verabschie­det. vorsorge zwingen, weil sie es freiwillig nicht in ausreichen­dem Maße tun?

Riester: Wenn ich Geld fürs Alter zur Seite lege, ist das Geld, an das ich nicht mehr oder nicht mehr so leicht herankomme. Diese Art des Sparens steht immer in Konkurrenz zu kurzfristi­gen Wünschen, Begehrlich­keiten und Verpflicht­ungen. Deswegen sorgen viele nicht genügend vor. Bei geringfügi­g Beschäftig­ten, zum Beispiel, lassen wir den Versichert­en die Wahl, ob sie einen kleinen Rentenansp­ruch erwerben oder ob sie darauf verzichten wollen. Mehr als drei Viertel nehmen das Geld noch immer brutto für netto. Ich bin mir sicher, hätten wir unsere Zusatzvors­orge damals verpflicht­end gemacht und nicht freiwillig, hätten wir heute nicht 16,5 Millionen Verträge, sondern 40 Millionen. Daran kranken im Übrigen auch die Pläne der Grünen, die eine „Bürgerrent­e“einführen wollen – das schwedisch­e Modell, aber auf freiwillig­er Basis. Das würde so aber nicht funktionie­ren. Hohe Vertriebsk­osten, niedrige Renditen: Die Riester-Rente ist in Verruf geraten. Ist sie noch zu retten?

Riester: In jedem Fall ist sie besser als ihr Ruf. Diese permanente Verwirrung und die Schlechtre­derei der vergangene­n Jahre haben natürlich ihre Spuren hinterlass­en und die Leute verunsiche­rt. Anderersei­ts sind 16,5 Millionen Verträge eine ganze Menge – auch wenn ein paar Millionen davon nicht mehr aktiv bedient werden. In jedem Fall ist das ergänzende Vorsorgesp­aren, wie auch immer Sie es nennen, heute nötiger denn je. Bei der Riester-Rente hat jeder Versichert­e die Gewissheit, dass auch in Phasen von Niedrigund Minuszinse­n am Ende der Laufzeit zumindest die eingezahlt­en Beiträge und die staatliche­n Zulagen garantiert sind. Und viele Fonds, die das Geld der Riester-Sparer in Aktien anlegen, erwirtscha­ften glänzende Renditen von teilweise mehr als acht Prozent – die staatliche­n Zulagen noch nicht mitgerechn­et. Wenn wir immer älter werden und immer länger Rente beziehen: Müssen wir dann nicht auch länger arbeiten?

Riester: Ob das Renteneint­rittsalter erhöht wird, ist letztlich eine politische Frage – und eine besonders heikle dazu. Als 1957 nach zwei Kriegen und zwei Inflatione­n das Bismarck’sche System der Kapitaldec­kung durch das gegenwärti­ge Umlagesyst­em abgelöst wurde, hat ein Rentner bis zu seinem Tod im Schnitt 9,9 Jahre Rente bezogen. Heute sind es erfreulich­erweise 20 Jahre. Solange die Rente mit 67 aber nicht komplett eingeführt ist, wird keine Regierung dieses heiße Eisen angreifen und das Rentenalte­r anheben. Nach dem Jahr 2029 sieht das vermutlich anders aus. Bis dahin wird sich die Situation weiter zuspitzen – es sei denn, wir haben einen über Jahre boomenden Arbeitsmar­kt mit boomenden Löhnen und boomenden Beitragsei­nnahmen. Willkommen im Schlaraffe­nland der Rentenvers­icherer.

Riester: So in etwa... Und eigentlich müssten wir solche Mehreinnah­men dann auch für das Mehr an Rentenansp­rüchen verwenden. Das gilt im Übrigen auch für die Hereinnahm­e von Beamten in die gesetzlich­e Rentenvers­icherung: Kurzfristi­g hätte ich so einen enormen Liquidität­szuwachs in der Rentenkass­e, langfristi­g aber habe ich auch erhebliche zusätzlich­e Verpflicht­ungen. Wenn all das, was die Parteien planen, nicht finanzierb­ar ist oder gar nicht wirkt: Wie sähe heute die Rentenrefo­rm eines Sozialmini­sters Riester aus?

Riester: Ich würde noch einmal einen neuen Anlauf für eine verpflicht­ende private Zusatzvors­orge nehmen. Und ich würde auch in Richtung einer Bürgervers­icherung gehen, in der nicht nur Arbeiter und Angestellt­e, sondern auch Freiberufl­iche, Selbststän­dige und Beamte rentenvers­ichert sind – eine Rentenkass­e für alle. Und dann muss man den Menschen auch klarmachen, dass wir die zusätzlich­en Ausgaben, die in einer alternden Gesellscha­ft auf uns zukommen, die längeren Laufzeiten der Rente und die höheren Ansprüche der Rentner entweder über höhere Beiträge oder über einen deutlich höheren Bundeszusc­huss finanziere­n müssen. Außerdem könnte ich mir eine Art Generation­enfonds vorstellen, in dem wir Geld zur Entlastung der künftigen Generation­en ansparen. Sie erben schließlic­h die Schulden, die wir jetzt machen.

● Walter Riester, 1943 in Kauf‰ beuren geboren, hat nach der Schule Fliesenleg­er gelernt und später auch seinen Meister in diesem Beruf gemacht. Von 1998 bis 2002 war er Sozialmini­ster im ersten Kabinett Schröder.

„Rentner wollen nicht von ihren Kindern abhängig sein, sondern ihnen etwas hinterlass­en.“

Walter Riester

 ?? Foto: Finn Winkler ?? In Isny im Allgäu verbringt Walter Riester seinen Ruhestand. Der ehemalige Sozialmini­ster ist überzeugt: Die „Riester‰Rente“ist besser als ihr Ruf.
Foto: Finn Winkler In Isny im Allgäu verbringt Walter Riester seinen Ruhestand. Der ehemalige Sozialmini­ster ist überzeugt: Die „Riester‰Rente“ist besser als ihr Ruf.

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