Mittelschwaebische Nachrichten
Warten auf Reform des Wahlrechts
Verfassungsgericht urteilt erst im Herbst
Berlin Das Thema ist seit vielen Jahren ein Ärgernis. Sollte es die klassischen Stammtische noch geben, dürfte dort mit Kritik und Hohn darauf reagiert worden sein, dass der Bundestag immer größer wird. Zwar haben alle großen Parteien versprochen, das Problem anzugehen. Doch Erfolg hatten die Initiativen bis heute nicht. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht ein erstes Mal gesprochen – und auf den ersten Blick die Bemühungen unterstützt, die Zahl der Abgeordneten zurückzuschrauben. Doch genau das wird zunächst kaum geschehen.
Zwar bleibt die umstrittene Wahlrechtsreform der Großen Koalition zur Bundestagswahl in Kraft, wird aber danach im Herbst vom Bundesverfassungsgericht erneut unter die Lupe genommen. Die Karlsruher Richterinnen und Richter halten es zumindest für möglich, dass die Neuregelung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Für die Bürgerinnen und Bürger, die am 26. September wählen gehen, ändert sich nichts. Gestritten wird darum, nach welchen Regeln ihre Stimmen in Mandate umgerechnet werden. Denn der Bundestag braucht mit inzwischen 709 Sitzen eine Schrumpfkur – darin immerhin sind sich alle Parteien einig.
Aber über das Wie der Verkleinerung wird seit Jahren gestritten. Doch immer geht es um Macht, weswegen die Reform so schwierig ist. Eine Kompromisslösung, die alle mittragen wollten, war in zwei Wahlperioden trotz mehrerer Anläufe nicht zustande gekommen. Im Oktober 2020 hatten Union und SPD schließlich im Alleingang eine Wahlrechtsänderung beschlossen.
Fast alle Experten halten diese Initiative allerdings für Stückwerk. Denn bei den derzeit 299 Wahlkreisen soll es zunächst bleiben. Und genau das ist der Knackpunkt. Also kommt die Reform auf Wiedervorlage. Der große Wurf ist erst für die Wahl 2025 angekündigt: Eine Kommission soll bis Mitte 2023 Vorschläge machen.
Jetzt droht erst mal eine Abgeordnetenschwemme: Nach Berechnungen des Wahlrechtsexperten Robert Vehrkamp könnte das Parlament auf mehr als 1000 Abgeordnete anwachsen. Nach der Neuregelung werden Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten verrechnet. Bis zu drei Überhangmandate werden nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert, wenn der Bundestag seine Soll-Größe überschreitet. Diese ist bei 598 Sitzen festgelegt.
FDP, Linke und Grüne hatten einen Alternativentwurf vorgelegt, der nur 250 Wahlkreise vorsah, sich damit aber nicht durchsetzen können. Anfang Februar reichten sie dann in Karlsruhe einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle ein. Die Regelungen seien unklar formuliert, außerdem verstießen sie gegen die im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Chancengleichheit der Parteien und der Wahlrechtsgleichheit. Die Verfassungsrichterinnen und -richter des Zweiten Senats ziehen zumindest in Erwägung, dass diese Einwände nicht unberechtigt sind: Der Normenkontrollantrag sei „weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet“. Die endlose Geschichte dürfte also noch immer nicht zu Ende sein.