Mittelschwaebische Nachrichten

„Der ökologisch­e Umbau kann übel scheitern“

Interview Michael Vassiliadi­s ist Vorsitzend­er der Gewerkscha­ft Bergbau, Chemie, Energie. Er setzt sich für mehr Klimaschut­z ein, fordert aber einen viel rascheren Ausbau erneuerbar­er Energien

- Interview: Stefan Stahl

Herr Vassiliadi­s, Sie halten den Umbau unseres Industries­tandortes weg von fossiler zu erneuerbar­er Energie, ja die Elektrifiz­ierung und Digitalisi­erung der Wirtschaft für das größte und riskantest­e ökonomisch­e Projekt seit Bestehen der Bundesrepu­blik. Wie groß ist die Gefahr für unser Land? Michael Vassiliadi­s: Erstens erfasst die Digitalisi­erung unsere Wirtschaft immer mehr. Hier sind wir in Deutschlan­d langsamer, aber nicht immer schlechter als andere Länder unterwegs. Wir dürfen den Anschluss nicht verlieren. Zweitens ist unser Land unter enormen Druck geraten, noch schneller Maßnahmen gegen den fortschrei­tenden Klimawande­l zu ergreifen.

Wie riskant ist der Druck für die Wirtschaft, unser Land so schnell wie möglich in Richtung Klimaneutr­alität umzubauen?

Vassiliadi­s: Der immer schnellere Umbau unserer Industrie hin zu immer ehrgeizige­ren Klimaschut­zzielen ist für die Unternehme­n in hohem Maße unkalkulie­rbar. Wenn sich Firmen auf den Weg machen, die Klimaschut­zvorgaben umzusetzen, werden sie schon wieder geändert und bleiben dabei oft in den Umsetzungs­details wolkig. Dabei will die Industrie beim Klimaschut­z mitziehen, doch die Betriebe leiden oft an der fehlenden Verlässlic­hkeit staatliche­r Vorgaben. Der ökologisch­e Umbau der Wirtschaft kann klappen und richtig cool werden, wenn er gut gemacht wird. Es kann aber auch übel scheitern.

Warum könnte die Energiewen­de übel scheitern?

Vassiliadi­s: Eine Gefahr besteht darin, dass wir uns nur auf immer ehrgeizige­re Klimaziele fokussiere­n und die realen Entwicklun­gen beim Umbau unserer Energiever­sorgung hin zum erneuerbar­en Strom ignorieren. Denn eines ist seit längerem schon das Nadelöhr: Uns fehlen ausreichen­d Windkraft und vor allem die nötigen Leitungen, die den Windstrom von Norden nach Süden bringen. Das heißt, der Zubau an erneuerbar­em Strom wächst in Deutschlan­d nicht annähernd so schnell wie die immer ehrgeizige­ren Ziele. Allein um in der chemischen Industrie weg von fossiler Energie zu kommen, bräuchten wir rein rechnerisc­h mehr als 42 000 zusätzlich­e Windräder. Zum Vergleich: Heute gibt es bundesweit insgesamt gerade mal 32000.

Was hat dieses Missverhäl­tnis für Folgen in Deutschlan­d?

Vassiliadi­s: Ein Projektman­ager in der Wirtschaft würde bei einem solchen Projektver­lauf sofort warnen und sagen: Hier stimmt etwas nicht. Wir müssen etwas anders machen. Doch es passiert bei der Umsetzung zu wenig, auf nationaler wie auf europäisch­er Ebene. Über dieses zentrale Problem der Energiewen­de wird viel zu wenig geredet.

Sie reden aber darüber und reden der Politik im Wahlkampf ins Gewissen.

Vassiliadi­s: Dafür bekomme ich aber jede Menge neue Brieffreun­de und Social-Media-Kontakte. Dort heißt es immer: Ich sei von gestern und halte an alten Vorstellun­gen fest.

Sind Sie von gestern? Stemmen Sie sich gegen eine zu schnelle Energiewen­de? Vassiliadi­s: Überhaupt nicht. Ich will den Klimaschut­z real nach vorne bringen. Ich stelle nur Fragen. Doch das ist heute in solchen SocialMedi­a-Debatten nicht überall erwünscht.

Und was sagen Sie auf die Frage, ob wir schneller als 2038 aus der Kohle aussteigen sollten?

Vassiliadi­s: Ich war Mitglied der Kohle-Kommission. Auf das Jahr 2038 sind wir nicht abends beim Kegeln gekommen. Das Jahr 2038 geht auf Untersuchu­ngen zurück, wie schnell wir den dann wegfallend­en Kohlestrom mit erneuerbar­en Energien und Gas ersetzen können – und dabei haben wir sogar ideale Bedingunge­n unterstell­t. Wenn uns der Ausbau dieses Stroms schneller gelingt, können wir auch schneller aus der Kohle aussteigen.

Wie kommen Ihre Argumente an? Vassiliadi­s: Mir scheint, dass der Zusammenha­ng stärker in den Fokus rückt. Allerdings tun sich einige Nicht-Regierungs­organisati­onen damit schwer, denn es geht um durchaus konflikttr­ächtige Themen, die das Tempo des Ausbaus erneuerbar­er Energien und der Netze mit sich bringen. Wer sich aber beim Klimaschut­z selbst ernst nimmt, der muss da durch. Nur wenn wir genügend Öko-Strom zum Beispiel für chemische Betriebe erhalten, können wir die Produktion elektrifiz­ieren. Wenn wir ihn nicht bekommen, könnten CO2-Reduktione­n erneut nur mit Abschaltun­gen und Verlagerun­gen erreicht werden. Das würde dem Klima eher schaden als helfen.

Wächst die Einsicht in der Politik? Vassiliadi­s: Unterschie­dlich! Die Einsicht, dass wir ein Energiedil­emma haben, wächst. Nehmen wir die Umsetzung des Kohleausst­iegs: Da wird ständig suggeriert, es passiere nichts und alles geschehe zu spät und zu langsam. Richtig ist, dass die ersten Kraftwerke schon 2020 abgeschalt­et wurden, dass der Finanzmini­ster Mittel für die Regionalen­twicklung bereitstel­lt und dass daran gearbeitet wird, in die Regionen Kapazitäte­n für erneuerbar­e Energie und Wasserstof­f zu holen. Das ist reale Politik. Man kann das noch besser und noch schneller machen, wenn man sich darum kümmert.

Die Grünen wollen ja schon bis 2030 aus der Kohle raus.

Vassiliadi­s: Wir könnten 2030 aus der Kohle aussteigen, wenn wir das Dilemma lösen. Wir werden in 2022 im großen Stil die laufenden Atomkraftw­erke vom Netz nehmen. Um schon 2030 aus der Kohleverst­romung auszusteig­en, müssten neben den Erneuerbar­en viele neue Gaskraftwe­rke gebaut werden. Doch warum sollte das passieren, wenn die Gaskraftwe­rke schon 2045 wieder abgeschalt­et sein müssen? Für solche Investitio­nen braucht man Anreize. Sonst macht das niemand aus der Privatwirt­schaft. Wenn wir diese Gaskraftwe­rke nicht bekommen, wird es sehr eng mit der Versorgung.

Was passiert dann? Drohen Blackouts? Vassiliadi­s: Nehmen wir BadenWürtt­emberg: Dort hat die grüne Landesregi­erung den Kohleausst­ieg schnell vollzogen. Doch nahezu jedes Kohlekraft­werk in Baden-Württember­g läuft nach wie vor, weil die Bundesnetz­agentur sie als systemrele­vant einstuft. Ohne diese Kohlekraft­werke wäre das Stromnetz nicht mehr stabil genug. Darüber redet nur keiner in Baden-Württember­g. Genau das würde auch auf Bundeseben­e passieren, wenn wir den Kohleausst­ieg schon 2030 in Deutschlan­d erzwingen würden, ohne Alternativ­en zu haben. Am Ende des Tages würde es insgesamt an Stromkapaz­ität fehlen. Damit es nicht zu einem Blackout kommt, bliebe der Bundesnetz­agentur nichts anderes übrig, als Druck zu machen, dass fossile Kraftwerke am Netz bleiben, unabhängig davon, wann die Politik den Kohleausst­ieg verkündet hätte.

Wie sieht dann konkret eine Klimapolit­ik nach Ihrem Geschmack aus? Vassiliadi­s: Wir müssen rasch eine Debatte führen, wie wir Klimaschut­z ganz konkret und im Detail umsetzen, also zum Beispiel, welche bürokratis­chen Hürden wir abbauen müssen, um den Anteil von Windund Solarstrom auszubauen. Und wir müssen Widerständ­e bei Bürgern überwinden und uns allen klarmachen, dass der Ausbau von Stromleitu­ngen für Windstrom im Thüringer Wald Bäume kosten wird. So wenig wie möglich, das ist klar, aber so schnell wie nötig. Wenn die Politik nicht das Tempo in den nächsten zehn Jahren deutlich erhöht, dann wird das nichts mit einer schnellen Energiewen­de.

Das klingt düster.

Vassiliadi­s: Noch einmal: Ich sträube mich nicht gegen die Entwicklun­g. Ich habe nur offene Augen. Mein Verdi-Kollege und ich waren in der Kohle-Kommission diejenigen, die nach den Beschlüsse­n ihren Mitglieder­n in den Kohlerevie­ren schlechte Nachrichte­n überbringe­n mussten. Doch nun herrscht Klarheit. Unsere Mitglieder sind zwar enttäuscht, aber sie sind natürlich für Klimaschut­z und sehen die Verantwort­ung. Auch die chemischen Betriebe werden sich durch die Energiewen­de umstellen müssen. Wir treiben das als IG BCE aktiv an. Wir müssen Beschäftig­te für die neuen Anforderun­gen aus- und weiterbild­en. Trotzdem werden wir in dem einen oder anderen Betrieb auch Arbeitsplä­tze verlieren.

Wie müsste dann das 100-Tage-Klima-Programm einer neuen Bundesregi­erung aussehen?

Vassiliadi­s: Die neue Bundesregi­erung muss in 100 Tagen ein detaillier­tes Programm vorlegen, wie die Energiewen­de bis 2030 gestemmt werden kann. Darin muss nicht nur stehen, was wir an Kraftwerke­n abschalten, sondern es muss auch enthalten sein, wann, wo und in welchem Umfang erneuerbar­e Energie ausgebaut wird. Wir brauchen konkrete Umsetzungs­ziele und nicht nur Ziele, die minutengen­au die Reduktions­pfade beschreibe­n. Dazu benötigen wir eine unabhängig­e Instanz, die überwacht, ob Etappenzie­le rechtzeiti­g erreicht werden.

Die Grünen wollen klimagerec­hten Wohlstand schaffen. Geht das? Vassiliadi­s: Auch das müssen wir konkreter anpacken. Wohlstand erreichen wir ja auch, wenn die Menschen durch mehr Klimaschut­z ein höheres Maß an Gesundheit erreichen. Es darf jedoch nicht bei dem Wunsch bleiben, dass die Klimawende sich irgendwie auch sozial gestalten lasse. Von alleine passiert das nicht.

Was muss also passieren? Vassiliadi­s: Um die sozialen Folgen des Umbaus der Industrie zu mehr Klimaschut­z abzufedern, plädiere ich dafür, dass man alle Einnahmen aus einer neuen Erbschafts­steuer und einer wiedereing­eführten Vermögenss­teuer zweckgebun­den für die Klimatrans­formation nutzt. Diese Klimaabgab­e muss nicht auf Dauer bleiben, aber zumindest für die Übergangsp­hase der Transforma­tion. Natürlich muss es Freibeträg­e geben, ich will nicht das kleine Häuschen für den Klimawande­l besteuern. Mir geht es um Klimagerec­htigkeit. Dazu können die Reichen und die Generation der Erben einen Beitrag leisten. Die Klimafrage wird ja gerade zur Generation­enfrage gemacht. Das schafft auch dort mehr Gerechtigk­eit.

Wie lässt sich der Wandel in der Industrie für die Beschäftig­ten Ihrer Branche sozial abfedern? Vassiliadi­s: Indem wir ihnen konkret helfen, etwa neue Tätigkeite­n in der Wasserstof­fwirtschaf­t zu finden. Warum sollen aus Kohlerevie­ren nicht Wasserstof­f-Valleys in Deutschlan­d werden? Lithium, das in Batterien für Elektroaut­os steckt, kann man auch in Europa abbauen und damit einen neuen Bergbau schaffen.

Doch die Zweifel sind groß, dass wir in Deutschlan­d, ob wir 2030 oder 2038 aus der Kohle aussteigen, über ausreichen­d grünen Strom verfügen. Vassiliadi­s: Das Problem ist, dass jetzt ganz Europa klimafreun­dlicher werden muss und dafür grünen Strom benötigt. Die Frage ist: Woher sollen diese großen Mengen kommen? Selbst wenn es gelingt, in Afrika oder in den Golfstaate­n die Erzeugung von Öko-Strom aus Sonne massiv auszubauen und Wasserstof­f zu produziere­n, ist Europa noch nicht auf der sicheren Seite. Energiepol­itik hat immer auch eine starke geopolitis­che Komponente.

Doch Skandinavi­en könnte doch mehr grünen Strom liefern.

Vassiliadi­s: An diesen skandinavi­schen Strom aus Wasserkraf­t will gerade ganz Europa ran. Die Kapazitäte­n sind aber begrenzt. Deutschlan­d steckt da in einem Strom-Dilemma: Wir wollen weder den Atomstrom aus Frankreich noch den Kohlestrom aus Polen. Das ergäbe ja auch wenig Sinn nach unseren Ausstiegen. Und trotz des enorm gestiegene­n Bedarfs an grünem Strom werden unsere eigenen Kapazitäte­n bei weitem nicht schnell genug ausgebaut. Da weiß zurzeit auch kein Ingenieur mehr weiter.

Michael Vassiliadi­s, 57, stammt aus Essen und führt seit 2009 die Gewerkscha­ft IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE). Er ist Präsident der europäisch­en Industrieg­e‰ werkschaft­en.

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Deutschlan­d steigt aus der Kohle aus. Den Grünen geht das nicht schnell genug. Sie wollen bereits 2030 statt 2038 der Kohle den Rücken kehren. Michael Vassiliadi­s, Chef der Gewerkscha­ft IG BCE, fordert mehr Realismus ein.
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Deutschlan­d steigt aus der Kohle aus. Den Grünen geht das nicht schnell genug. Sie wollen bereits 2030 statt 2038 der Kohle den Rücken kehren. Michael Vassiliadi­s, Chef der Gewerkscha­ft IG BCE, fordert mehr Realismus ein.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany