Mittelschwaebische Nachrichten
„Der ökologische Umbau kann übel scheitern“
Interview Michael Vassiliadis ist Vorsitzender der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie. Er setzt sich für mehr Klimaschutz ein, fordert aber einen viel rascheren Ausbau erneuerbarer Energien
Herr Vassiliadis, Sie halten den Umbau unseres Industriestandortes weg von fossiler zu erneuerbarer Energie, ja die Elektrifizierung und Digitalisierung der Wirtschaft für das größte und riskanteste ökonomische Projekt seit Bestehen der Bundesrepublik. Wie groß ist die Gefahr für unser Land? Michael Vassiliadis: Erstens erfasst die Digitalisierung unsere Wirtschaft immer mehr. Hier sind wir in Deutschland langsamer, aber nicht immer schlechter als andere Länder unterwegs. Wir dürfen den Anschluss nicht verlieren. Zweitens ist unser Land unter enormen Druck geraten, noch schneller Maßnahmen gegen den fortschreitenden Klimawandel zu ergreifen.
Wie riskant ist der Druck für die Wirtschaft, unser Land so schnell wie möglich in Richtung Klimaneutralität umzubauen?
Vassiliadis: Der immer schnellere Umbau unserer Industrie hin zu immer ehrgeizigeren Klimaschutzzielen ist für die Unternehmen in hohem Maße unkalkulierbar. Wenn sich Firmen auf den Weg machen, die Klimaschutzvorgaben umzusetzen, werden sie schon wieder geändert und bleiben dabei oft in den Umsetzungsdetails wolkig. Dabei will die Industrie beim Klimaschutz mitziehen, doch die Betriebe leiden oft an der fehlenden Verlässlichkeit staatlicher Vorgaben. Der ökologische Umbau der Wirtschaft kann klappen und richtig cool werden, wenn er gut gemacht wird. Es kann aber auch übel scheitern.
Warum könnte die Energiewende übel scheitern?
Vassiliadis: Eine Gefahr besteht darin, dass wir uns nur auf immer ehrgeizigere Klimaziele fokussieren und die realen Entwicklungen beim Umbau unserer Energieversorgung hin zum erneuerbaren Strom ignorieren. Denn eines ist seit längerem schon das Nadelöhr: Uns fehlen ausreichend Windkraft und vor allem die nötigen Leitungen, die den Windstrom von Norden nach Süden bringen. Das heißt, der Zubau an erneuerbarem Strom wächst in Deutschland nicht annähernd so schnell wie die immer ehrgeizigeren Ziele. Allein um in der chemischen Industrie weg von fossiler Energie zu kommen, bräuchten wir rein rechnerisch mehr als 42 000 zusätzliche Windräder. Zum Vergleich: Heute gibt es bundesweit insgesamt gerade mal 32000.
Was hat dieses Missverhältnis für Folgen in Deutschland?
Vassiliadis: Ein Projektmanager in der Wirtschaft würde bei einem solchen Projektverlauf sofort warnen und sagen: Hier stimmt etwas nicht. Wir müssen etwas anders machen. Doch es passiert bei der Umsetzung zu wenig, auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Über dieses zentrale Problem der Energiewende wird viel zu wenig geredet.
Sie reden aber darüber und reden der Politik im Wahlkampf ins Gewissen.
Vassiliadis: Dafür bekomme ich aber jede Menge neue Brieffreunde und Social-Media-Kontakte. Dort heißt es immer: Ich sei von gestern und halte an alten Vorstellungen fest.
Sind Sie von gestern? Stemmen Sie sich gegen eine zu schnelle Energiewende? Vassiliadis: Überhaupt nicht. Ich will den Klimaschutz real nach vorne bringen. Ich stelle nur Fragen. Doch das ist heute in solchen SocialMedia-Debatten nicht überall erwünscht.
Und was sagen Sie auf die Frage, ob wir schneller als 2038 aus der Kohle aussteigen sollten?
Vassiliadis: Ich war Mitglied der Kohle-Kommission. Auf das Jahr 2038 sind wir nicht abends beim Kegeln gekommen. Das Jahr 2038 geht auf Untersuchungen zurück, wie schnell wir den dann wegfallenden Kohlestrom mit erneuerbaren Energien und Gas ersetzen können – und dabei haben wir sogar ideale Bedingungen unterstellt. Wenn uns der Ausbau dieses Stroms schneller gelingt, können wir auch schneller aus der Kohle aussteigen.
Wie kommen Ihre Argumente an? Vassiliadis: Mir scheint, dass der Zusammenhang stärker in den Fokus rückt. Allerdings tun sich einige Nicht-Regierungsorganisationen damit schwer, denn es geht um durchaus konfliktträchtige Themen, die das Tempo des Ausbaus erneuerbarer Energien und der Netze mit sich bringen. Wer sich aber beim Klimaschutz selbst ernst nimmt, der muss da durch. Nur wenn wir genügend Öko-Strom zum Beispiel für chemische Betriebe erhalten, können wir die Produktion elektrifizieren. Wenn wir ihn nicht bekommen, könnten CO2-Reduktionen erneut nur mit Abschaltungen und Verlagerungen erreicht werden. Das würde dem Klima eher schaden als helfen.
Wächst die Einsicht in der Politik? Vassiliadis: Unterschiedlich! Die Einsicht, dass wir ein Energiedilemma haben, wächst. Nehmen wir die Umsetzung des Kohleausstiegs: Da wird ständig suggeriert, es passiere nichts und alles geschehe zu spät und zu langsam. Richtig ist, dass die ersten Kraftwerke schon 2020 abgeschaltet wurden, dass der Finanzminister Mittel für die Regionalentwicklung bereitstellt und dass daran gearbeitet wird, in die Regionen Kapazitäten für erneuerbare Energie und Wasserstoff zu holen. Das ist reale Politik. Man kann das noch besser und noch schneller machen, wenn man sich darum kümmert.
Die Grünen wollen ja schon bis 2030 aus der Kohle raus.
Vassiliadis: Wir könnten 2030 aus der Kohle aussteigen, wenn wir das Dilemma lösen. Wir werden in 2022 im großen Stil die laufenden Atomkraftwerke vom Netz nehmen. Um schon 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen, müssten neben den Erneuerbaren viele neue Gaskraftwerke gebaut werden. Doch warum sollte das passieren, wenn die Gaskraftwerke schon 2045 wieder abgeschaltet sein müssen? Für solche Investitionen braucht man Anreize. Sonst macht das niemand aus der Privatwirtschaft. Wenn wir diese Gaskraftwerke nicht bekommen, wird es sehr eng mit der Versorgung.
Was passiert dann? Drohen Blackouts? Vassiliadis: Nehmen wir BadenWürttemberg: Dort hat die grüne Landesregierung den Kohleausstieg schnell vollzogen. Doch nahezu jedes Kohlekraftwerk in Baden-Württemberg läuft nach wie vor, weil die Bundesnetzagentur sie als systemrelevant einstuft. Ohne diese Kohlekraftwerke wäre das Stromnetz nicht mehr stabil genug. Darüber redet nur keiner in Baden-Württemberg. Genau das würde auch auf Bundesebene passieren, wenn wir den Kohleausstieg schon 2030 in Deutschland erzwingen würden, ohne Alternativen zu haben. Am Ende des Tages würde es insgesamt an Stromkapazität fehlen. Damit es nicht zu einem Blackout kommt, bliebe der Bundesnetzagentur nichts anderes übrig, als Druck zu machen, dass fossile Kraftwerke am Netz bleiben, unabhängig davon, wann die Politik den Kohleausstieg verkündet hätte.
Wie sieht dann konkret eine Klimapolitik nach Ihrem Geschmack aus? Vassiliadis: Wir müssen rasch eine Debatte führen, wie wir Klimaschutz ganz konkret und im Detail umsetzen, also zum Beispiel, welche bürokratischen Hürden wir abbauen müssen, um den Anteil von Windund Solarstrom auszubauen. Und wir müssen Widerstände bei Bürgern überwinden und uns allen klarmachen, dass der Ausbau von Stromleitungen für Windstrom im Thüringer Wald Bäume kosten wird. So wenig wie möglich, das ist klar, aber so schnell wie nötig. Wenn die Politik nicht das Tempo in den nächsten zehn Jahren deutlich erhöht, dann wird das nichts mit einer schnellen Energiewende.
Das klingt düster.
Vassiliadis: Noch einmal: Ich sträube mich nicht gegen die Entwicklung. Ich habe nur offene Augen. Mein Verdi-Kollege und ich waren in der Kohle-Kommission diejenigen, die nach den Beschlüssen ihren Mitgliedern in den Kohlerevieren schlechte Nachrichten überbringen mussten. Doch nun herrscht Klarheit. Unsere Mitglieder sind zwar enttäuscht, aber sie sind natürlich für Klimaschutz und sehen die Verantwortung. Auch die chemischen Betriebe werden sich durch die Energiewende umstellen müssen. Wir treiben das als IG BCE aktiv an. Wir müssen Beschäftigte für die neuen Anforderungen aus- und weiterbilden. Trotzdem werden wir in dem einen oder anderen Betrieb auch Arbeitsplätze verlieren.
Wie müsste dann das 100-Tage-Klima-Programm einer neuen Bundesregierung aussehen?
Vassiliadis: Die neue Bundesregierung muss in 100 Tagen ein detailliertes Programm vorlegen, wie die Energiewende bis 2030 gestemmt werden kann. Darin muss nicht nur stehen, was wir an Kraftwerken abschalten, sondern es muss auch enthalten sein, wann, wo und in welchem Umfang erneuerbare Energie ausgebaut wird. Wir brauchen konkrete Umsetzungsziele und nicht nur Ziele, die minutengenau die Reduktionspfade beschreiben. Dazu benötigen wir eine unabhängige Instanz, die überwacht, ob Etappenziele rechtzeitig erreicht werden.
Die Grünen wollen klimagerechten Wohlstand schaffen. Geht das? Vassiliadis: Auch das müssen wir konkreter anpacken. Wohlstand erreichen wir ja auch, wenn die Menschen durch mehr Klimaschutz ein höheres Maß an Gesundheit erreichen. Es darf jedoch nicht bei dem Wunsch bleiben, dass die Klimawende sich irgendwie auch sozial gestalten lasse. Von alleine passiert das nicht.
Was muss also passieren? Vassiliadis: Um die sozialen Folgen des Umbaus der Industrie zu mehr Klimaschutz abzufedern, plädiere ich dafür, dass man alle Einnahmen aus einer neuen Erbschaftssteuer und einer wiedereingeführten Vermögenssteuer zweckgebunden für die Klimatransformation nutzt. Diese Klimaabgabe muss nicht auf Dauer bleiben, aber zumindest für die Übergangsphase der Transformation. Natürlich muss es Freibeträge geben, ich will nicht das kleine Häuschen für den Klimawandel besteuern. Mir geht es um Klimagerechtigkeit. Dazu können die Reichen und die Generation der Erben einen Beitrag leisten. Die Klimafrage wird ja gerade zur Generationenfrage gemacht. Das schafft auch dort mehr Gerechtigkeit.
Wie lässt sich der Wandel in der Industrie für die Beschäftigten Ihrer Branche sozial abfedern? Vassiliadis: Indem wir ihnen konkret helfen, etwa neue Tätigkeiten in der Wasserstoffwirtschaft zu finden. Warum sollen aus Kohlerevieren nicht Wasserstoff-Valleys in Deutschland werden? Lithium, das in Batterien für Elektroautos steckt, kann man auch in Europa abbauen und damit einen neuen Bergbau schaffen.
Doch die Zweifel sind groß, dass wir in Deutschland, ob wir 2030 oder 2038 aus der Kohle aussteigen, über ausreichend grünen Strom verfügen. Vassiliadis: Das Problem ist, dass jetzt ganz Europa klimafreundlicher werden muss und dafür grünen Strom benötigt. Die Frage ist: Woher sollen diese großen Mengen kommen? Selbst wenn es gelingt, in Afrika oder in den Golfstaaten die Erzeugung von Öko-Strom aus Sonne massiv auszubauen und Wasserstoff zu produzieren, ist Europa noch nicht auf der sicheren Seite. Energiepolitik hat immer auch eine starke geopolitische Komponente.
Doch Skandinavien könnte doch mehr grünen Strom liefern.
Vassiliadis: An diesen skandinavischen Strom aus Wasserkraft will gerade ganz Europa ran. Die Kapazitäten sind aber begrenzt. Deutschland steckt da in einem Strom-Dilemma: Wir wollen weder den Atomstrom aus Frankreich noch den Kohlestrom aus Polen. Das ergäbe ja auch wenig Sinn nach unseren Ausstiegen. Und trotz des enorm gestiegenen Bedarfs an grünem Strom werden unsere eigenen Kapazitäten bei weitem nicht schnell genug ausgebaut. Da weiß zurzeit auch kein Ingenieur mehr weiter.
Michael Vassiliadis, 57, stammt aus Essen und führt seit 2009 die Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie (BCE). Er ist Präsident der europäischen Industriege werkschaften.