Mittelschwaebische Nachrichten
Fred Uhlman: Der wiedergefundene Freund (10)
Stuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundschaft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich
Was hat ein Hitlerbild im Schlafzimmer einer Hohenfels zu suchen?
Endlich waren wir in Konradins Zimmer. Es sah meinem recht ähnlich, war aber größer und bot einen schönen Ausblick auf einen gepflegten Garten mit einem Springbrunnen, einem kleinen dorischen Tempel und der Statue einer mit gelblichen Flechten bewachsenen Göttin. Aber Konradin ließ mir keine Zeit für die Betrachtung der Umgebung. Eilig öffnete er einen Schrank. Mit einem Eifer, der mir deutlich zeigte, wie lange er schon auf diese Gelegenheit gewartet hatte, breitete er seine Schätze aus, das Licht der Vorfreude auf meinen Neid und meine Bewunderung in den Augen. Eine griechische Münze nach der anderen wickelte er aus der Watte: einen Pegasus aus Korinth, einen Minotaurus aus Knossos, Prägungen aus Lampsakos und Agrigentum, Segesta und Selinus. Aber das war nicht alles, weitere Kostbarkeiten folgten, wertvoller als alles, was
ich besaß: die Statuette einer Göttin aus Gela in Sizilien, ein Fläschchen aus Sizilien in der Farbe und Form eines Granatapfels mit geometrischen Mustern bedeckt, die Tanagra-Figur eines Mädchens mit Chiton und Strohhut, eine syrische Glasschale, schillernd wie ein Opal und mit Prismaeffekten wie ein Mondstein, eine römische Vase aus milchigem, blassgrünem Jade und eine griechische Bronzestatuette des Herkules. Es war rührend anzusehen, wie es Konradin entzückte, mir seine Sammlung zeigen zu können, und wie er sich an meinem Erstaunen und meiner Bewunderung weidete.
Die Zeit verging unglaublich schnell, und als ich zwei Stunden später wegging, hatte ich weder seine Eltern vermisst noch richtig in Betracht gezogen, dass sie außer Haus sein könnten.
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Etwa vierzehn Tage später lud er mich zum zweiten Mal ein. Wir erneuerten das erfreuliche Programm: Wir unterhielten uns, betrachteten, verglichen, bewunderten. Wieder schienen seine Eltern abwesend zu sein, was mir nichts ausmachte, da ich sie ein wenig scheute, als sich das jedoch zum vierten Mal wiederholte, begann ich zu argwöhnen, dass dies kein Zufall sei, und zu fürchten, dass er mich nur einlud, wenn seine Eltern ausgegangen waren. Obgleich mich das verletzte, wagte ich nicht, ihn danach zu fragen.
Eines Tages fiel mir dann das Foto ein, das Hitler ähnlich gesehen hatte, aber zugleich schämte ich mich, dass ich auch nur einen Augenblick daran dachte, die Eltern meines Freundes mit so einem Mann in Verbindung zu bringen.
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Doch dann kam der Tag, der jeden Zweifel beseitigte.
Meine Mutter hatte mir eine Karte für „Fidelio“, dirigiert von Furtwängler, besorgt. Ich saß im Parkett und wartete, bis der Vorhang aufging. Die Geigen wurden gestimmt, und während sie summten und vibrierten, begann ein elegantes Publikum das Opernhaus zu füllen. Auch der Staatspräsident von Württemberg war anwesend.
Aber nicht er zog die Blicke auf sich. Alle Augen richteten sich auf den Eingang zur ersten SperrsitzReihe, als dort die Familie Hohenfels langsam und majestätisch ihren Einzug hielt. Ich erschrak vor Überraschung und hatte Mühe, in dem fremden, eleganten jungen Mann im Smoking meinen Freund wiederzuerkennen. Ihm folgte die Gräfin, ganz in Schwarz mit einem glitzernden Brillantdiadem, einer diamantenen Halskette und diamantenen Ohrringen, die ein bläuliches Licht über ihre olivenfarbene Haut sprühen ließen. Dann erschien der Graf, den ich zum ersten Mal erblickte, mit grauem Haar und grauem Schnurrbart, einen edelsteinblitzenden Orden auf der Brust. Da standen sie, eine überlegene Einheit, als sei es ihr gutes, von der Geschichte verliehenes Recht, von den Leuten mit offenem Mund angestaunt zu werden. Beim Weg zu ihren Plätzen ging der Graf voran. Um das schöne Haupt der ihm folgenden Gräfin tanzte der Glanz der Brillanten wie ein Nordlicht. Konradin machte den Beschluss; bevor er sich setzte, blickte er im Publikum umher und verneigte sich vor diesen und jenen Bekannten, seiner selbst so sicher wie sein Vater. Plötzlich sah er mich, deutete jedoch nicht einmal an, dass er mich erkannt hatte; gleich darauf suchten seine Augen wieder Parkett und Ränge ab. Ja, er sah mich; ich war sicher, dass er, als unsere Augen sich trafen, meine Anwesenheit bemerkt hatte. Dann hob sich der Vorhang, und sowohl die Familie Hohenfels wie das übrige, geringere Publikum versanken bis zur Pause in Dunkelheit.
Sobald der Vorhang fiel, drängte ich mich, ohne auf das Ende des Beifalls zu warten, hinaus in das Foyer, eine große Wandelhalle mit korinthischen Säulen, Kristall-Lüstern, goldgerahmten Spiegeln, zyklamenroten Teppichen und honigfarbenen Tapeten. Bemüht, hochmütig und herablassend auszusehen, lehnte ich mich an eine Säule und wartete auf die Hohenfels. Aber als sie auftauchten, wäre ich am liebsten weggelaufen. Mit dem einem Juden angeborenen uralten Instinkt wusste ich, dass der Dolch schon gezückt war, der mein Herz treffen würde. War es nicht besser, ihm auszuweichen, den Schmerz zu vermeiden? Warum wollte ich Gefahr laufen, einen Freund zu verlieren? Warum einen Beweis verlangen, statt den Verdacht wieder einzuschläfern? Aber ich besaß nicht die Kraft wegzulaufen. Mich gegen den Schmerz wappnend, zitternd, Halt an einer Säule suchend, sah ich meiner Exekution entgegen.
Langsam und majestätisch rückten die Hohenfels näher. Sie gingen nebeneinander, die Gräfin in der
Mitte, Bekannten zunickend oder ihnen mit einer lässigen fächerleichten Bewegung ihrer juwelengeschmückten Hand zuwinkend, die Aura der Brillanten um Hals und Haupt mit Lichttupfen wie kristallklare Wassertropfen. Auch der Graf grüßte mit leichtem Kopfneigen, wen immer er kannte, auch den Staatspräsidenten, der mit einer tieferen Verbeugung zurückgrüßte. Das Publikum öffnete ihnen eine Gasse, und der königliche Zug näherte sich ungehindert, glanzvoll und unheildrohend.
Nur noch wenige Meter, und sie waren bei mir. Ein Entrinnen war nicht mehr möglich, fünf Schritte, vier Schritte. Plötzlich sah er mich, lächelte, hob die rechte Hand – und führte sie zum Revers, als wolle er dort ein Stäubchen wegwischen. Vorbei. Und wieder schritten sie feierlich dahin, als folgten sie dem unsichtbaren Sarkophag eines Fürsten dieser Erde, im Takt eines unhörbaren Trauermarsches, ständig lächelnd, ständig die Hände hebend, als wollten sie die Menge segnen. Als sie das Ende des Foyers erreichten, verlor ich sie aus den Augen. Gleich darauf kamen der Graf und die Gräfin zurück, wiederum im Vorbeigehen die Huldigungen der Zuschauer entgegennehmend – allein, ohne Konradin.