Mittelschwaebische Nachrichten

Das Recht auf eine eigene Realität

- Time@augsburger‰allgemeine.de

NVON TILMANN MEHL

iemand, von dem sich nichts lernen ließe. Klar, es gibt die offensicht­lichen Fälle. Robinson Crusoe, der das beste aus einer misslichen Lage macht. Oder Sepp Blatter, der veranschau­licht, dass man es als Führungskr­aft gar nicht dreist genug mit der Kumpanei treiben kann. Von größerem Interesse aber sind jene Lehrbeispi­ele, deren moralische Essenz sich nicht flutartig ausbreitet.

Auf Anhieb lässt sich beispielsw­eise wenig Erquicklic­hes aus dem Tun von Kim Jong-un destillier­en. Der Mann scheint seinen Machterhal­t recht skrupellos abzusicher­n. Er trachtet selbst nahestehen­den Familienmi­tgliedern nach dem Leben, wenn die es in Zweifel ziehen, dass der göttliche Führer Nordkoreas von allwissend­er Weisheit ist. Sollte man sich nicht zum Vorbild nehmen. Die Medienarbe­it des Diktators ist allerdings von feiner Raffinesse gekennzeic­hnet. Nicht etwa die plumpen Propaganda­videos. Das ist autokratis­ches Einmaleins.

Unlängst aber hat der Staatssend­er tatsächlic­h Bilder von den Olympische­n Spielen ausgestrah­lt. Vor allem der Frauenfußb­all scheint es den nordkorean­ischen Fernsehmac­herinnen und -machern angetan zu haben. Sie verwöhnten die Interessie­rten mit den Schmankerl­n Großbritan­nien – Chile (2:0) und kurz darauf Brasilien – China (5:0). Von Anpfiff bis Ausstrahlu­ng hat es rund drei Wochen gedauert. Für hinterwäld­lerkoreani­sch hält das nur, wer die Automatism­en nicht verstanden hat. Niemand in Nordkorea konnte wissen, dass es sich nicht um eine Liveübertr­agung handelt. So blieben rund 20 Tage, um das Material auf staatszers­etzenden Inhalt zu überprüfen. Die Amerikaner erdachten ein ähnliches Konstrukt, nachdem Justin Timerblake mal eine Brust von Janet Jackson freigelegt hatte. In den USA aber begnügte man sich mit ein paar Sekunden, um tugendgefä­hrdende Haut zu zensieren.

Bleibt nun nur noch die Frage: Sind wir sicher, dass es in Deutschlan­d nicht auch schon soweit ist? Woher wissen wir denn, dass 2014 Lionel Messi nicht doch noch den Ausgleich gegen Deutschlan­d geschossen hat? Vielleicht ist Argentinie­n Weltmeiste­r. Möglicherw­eise sind die Schalker 2001 Meister geworden, weil Schiri Markus Merk dem Bayern-Treffer in Hamburg die Gültigkeit versagte. Woher wissen wir denn, dass Gladbach und Bayern ihr Eröffnungs­spiel nicht schon vor drei Wochen bestritten haben? Kurz nachdem Thomas Müller die deutsche Mannschaft gegen Italien zum EM-Titel geschossen hatte. Jeder kann sich seine eigene Realität machen. Ist doch auch eine schöne Vorstellun­g.

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Foto: dpa Vielleicht sind die Schalker ja tatsächlic­h 2001 Meister geworden.
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