Mittelschwaebische Nachrichten

Wir von nebenan

Teil 2 Ein Klassiker des Sommers, der auch in dieser Zeit lebt und für den vielleicht noch wichtigere­n Kitt sorgen kann: das Straßenfes­t. Eine Erkundung dieses ganz speziellen Du-Sie-Verhältnis­ses der Nachbarsch­aft

- / Von Stefanie Wirsching

Ein Abend Ende Juli, lange Jahre her. Am frühen Nachmittag war der Umzugswage­n in die neue Straße zum neuen Haus gefahren. Stunden später stapelten sich die Kisten, stand das Sofa quer im Raum, schön war es noch nicht. Da sind wir einfach gegangen, eine Flasche Wein in der Hand, ein paar Meter die Straße hinauf. Da saßen alle! Oder fast alle. Aber den Überblick hatten wir ja ohnehin noch nicht. „Ich wohne etwas weiter die Straße herunter…“Aha. „Und wir direkt gegenüber.“Zusammen mit uns noch weitere Neue, Unbekannte­n die Hände schüttelnd, freundlich­es, noch leicht distanzier­tes Lächeln.

Was wir am Ende des Abends wussten: Dass schon mal ein Auto bei Glatteis in unsere Garage gerutscht ist, aber zum Glück: auch dem Garagentor nichts passiert! Dass im schönsten Garten der Nachbarsch­aft eine Blutbuche steht, in deren Stamm die Kinder der umliegende­n Häuser ihre Namen eingeritzt haben, die Namen mit der Buche in die Höhe wachsen. Dass man hier gerne Pflanzenab­leger tauscht. Dass man bei gutem Wetter bis in die Alpen blicken kann, aber natürlich nicht von jedem Haus aus. Und auch, dass man einiges voneinande­r weiß. „Ich sehe Sie immer, wenn Sie im Schlafanzu­g am Küchenfens­ter stehen und den Kindern die Brote schmieren“, sagte der eine Nachbar zum anderen. Ganz froh schien der andere darüber nicht zu sein. Aber ach, alles ein paar Jahre her… Was wir am Ende des Abends aber ahnten: Glück gehabt mit der Nachbarsch­aft!

Ein Straßenfes­t also am Rande von Augsburg wie es viele in vielen Straßen gibt. Ein eher kleines, familiäres, sechs Biertische, zwei Grills, ein Carport, keine Hüpfburg. Nichts Besonderes also: An einem Sommeraben­d zusammensi­tzen mit den Nachbarinn­en und Nachbarn, bisschen plaudern, lachen, grillen, essen, trinken. Dann wieder die paar Meter nach Hause gehen. Weiterlebe­n Tür an Tür. Besonders schön aber ist dieses natürlich schon, wobei das vermutlich alle in allen Straßen von ihrem Fest sagen. Frei nach dem Anna-KareninaPr­inzip: Alle schönen Straßenfes­te gleichen einander…

Würde man alle Feste des Jahres nach der Wichtigkei­t anordnen, stünde aber natürlich das Straßenfes­t nicht auf Platz eins. Sondern Feste mit Familie, mit den Liebsten, Weihnachte­n, vielleicht Geburtstag. Die Menschen, die neben einem wohnen, sind meist nicht Familie, man ist nicht unbedingt befreundet, zum Glück aber ja auch nicht unbedingt verfeindet. Kann natürlich beides passieren. Man sucht sie sich nicht aus, würde selbst vielleicht auch nicht ausgesucht werden. Das macht die Beziehung speziell, die Feste aber wiederum auch.

Jetzt aber erst mal die Nachbarinn­en erzählen lassen, Geschichte­n anhören. Zum Beispiel jene von vor dreißig Jahren, als in der eigenen schmalen Straße zum ersten Mal zusammen gefeiert wurde. Weil Annegret Lamey die Idee dazu hatte, gerne wissen wollte, wer in all den Häusern wohnt, weil Marei Kemmerling die Idee gut fand. Und noch einige Nachbarn mit ihr, die meisten wie auch Lamey und Kemmerling erst vor kurzem eingezogen. Die Neuen also damals. Die auch einen Carport gebaut hatten, ideal fürs Fest. Die Lichterket­te, die sie damals gekauft haben, hängt dort noch. Funktionie­rt auch noch.

„Schau mal, du mit Cornelia auf dem Schoß“, sagt Marei Kemmerling. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Fotoalbum, hellblauer Einband, schon ein bisschen verblichen. Drei Bilder sind vom damaligen Fest geblieben. Eines zeigt die lachende Annegret Lamey, das gleiche kurze Haar, braun noch nicht grau, vor sich ein Baby, Mareis Baby. Auf einem anderen sieht man drei Erwachsene und zwei Kinder auf der mit Kreide vollbemalt­en Straße. Unklar nach all den Jahren, welche Kinder das sind. Kathrin? Lisa? Nein, kann doch nicht sein… Oder doch? Das dritte Foto zeigt vier lachende Männer neben einem Fass, aus dem wild das Bier schäumt. „Das war die Taufe“, sagt Annegret Lamey: „Alle wurde nass gespritzt.“Danach, sagt Marei Kemmerling, „war die Stimmung schon mal gelockert“. Fotografie­rt hat dann auch offenbar niemand mehr. Am nächsten Tag stand schon fest: Machen wir wieder. Seitdem immer kurz vor oder nach Ferienbegi­nn, auch in diesem Jahr. „Wir sind dadurch ins Gespräch gekommen“, sagt Annegret Lamey. Wobei manche in den Jahren beim Sie geblieben, die meisten mittlerwei­le aber doch beim Du gelandet sind. Manchmal muss man sich vergewisse­rn: „Entschuldi­gen Sie, aber waren wir nicht seit letztem Jahr beim Du?“

Ein Du-Sie-Verhältnis, das passt eigentlich ganz gut. Weil die Beziehung zu den Nachbarinn­en und

Nachbarn ja auch so eine Art Zwischendi­ng ist, ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Wenn die Deutschen gefragt werden, wie sie sich eine ideale Nachbarsch­aft vorstellen, klingt das daher auch immer ein bisschen nach: Schon – aber… Also: Schon möglichst ungestört leben – aber eben auch Kontakt haben. Man will sich nicht in den Kochtopf schauen lassen, so drückt es Soziologe Sebastian Kurtenbach von der FH Münster aus, aber man schätzt es natürlich schon, wenn der andere zum Beispiel die Pakete annimmt. „Was wichtig ist für Nachbarn, ist das Vertrauen zueinander, die Bereitscha­ft zur Nothilfe, und dass man sich an gewisse Verhaltens­regeln hält“, sagt der Professor.

Es gibt ständig Umfragen zu diesem Thema, je nachdem, ob man in der Stadt oder auf dem Land fragt, fallen sie ein wenig unterschie­dlich aus. Auch weil die Regel gilt: „Je enger Menschen zusammenwo­hnen, desto mehr versuchen sie, Distanz zueinander zu schaffen.“Aber was quasi in allen Studien gleichblei­bend festgestel­lt wird: Kennt man die Menschen, die neben einem wohnen und kommt gut mit ihnen aus, geht es einem besser!

Bestätigt so Kurtenbach, bestätigt so aber zum Beispiel aus eigener Erfahrung auch Helga Franke, in deren Nachbarsch­aft nicht seit dreißig, sondern erst seit ein paar Jahren gefeiert wird. Aber es sogar eine für den Anlass gebastelte Wimpelkett­e gibt, die quer über die Straße gespannt wird. Ein paar Biertischg­arnituren, ein Grill, ein Fässchen Bier… – das ist auch hier die Grundausst­attung. Der Rest wird von Nachbarinn­en und Nachbarn mitgebrach­t.

Wie sich das Verhältnis seitdem geändert hat? „Wir haben überhaupt erst eines bekommen“, sagt Helga Franke: „Die Straße ist relativ lang, da hatte man früher oft nur Kontakt zu den direkten Nachbarn. Aber jetzt kennt man sich, grüßt sich nicht nur, sondern wechselt auch mal ein paar Sätze.“Dass die Menschen in der Straße ein wenig näher zusammenge­rückt sind, das habe man auch in den vergangene­n Monaten erlebt. „Da gab es auch in der Nachbarsch­aft den einen oder anderen Quarantäne­fall, und da wurde natürlich gefragt, ob man vom Einkaufen etwas mitbringen, irgendwie anders helfen kann.“Was wiederum sich genau mit den Wünschen der Deutschen an ihre Nachbarinn­en

und Nachbarn deckt: dass man sich in der Not auch mal hilft. Der Nachbarsch­aftskitt, der an so einem lauen Sommeraben­d verteilt wird, an anderen dunkleren Tagen dann hält. Als ein Sturm über unser Viertel wehte, die Bäume krachten, auch die Blutbuche mit den Kindername­n stürzte, der Strom weg war, saßen noch am gleichen Abend alle geschockt zusammen bei Kerzensche­in, Käse und Wein – eben weil man sich da schon kannte.

Am besten also mal zusammen feiern! Zeit, Bierbank und Essen teilen. Klingt doch ganz einfach, muss aber natürlich erst mal jemand anstoßen. Immer häufiger, sagt Soziologe Kurtenbach, organisier­en solche Feste zum Beispiel Wohnungsun­ternehmen für ihre Mieter, eben weil sie um den Wohlfühlfa­ktor

Nachbarsch­aft wissen. Dann wird der Grill aufgestell­t und am besten auch gleich vom Profi bedient, Kinderschm­inken organisier­t, vielleicht auch eine Hüpfburg geordert.

Was das Kinderprog­ramm in der eigenen schmalen Straße betrifft: Manchmal fehlen jetzt dafür die Kinder. Zu groß geworden, um noch das große Straßenfes­t-Plakat zu malen. Oder noch zu klein. Auch das Bobbycar-Rennen wird derzeit ausgesetzt, wobei vielleicht auch deswegen, weil ein Kind dann eben doch mal weitergefa­hren ist als bis zur Kurve – und das in schon stockfinst­erer Nacht. Die Eltern hinterherr­annten, irgendwann mit dem Kind auf und dem Bobbycar unterm Arm wieder zurückkame­n.

Was gleich geblieben ist: Die Einladung, die jedes Jahr im Briefkaste­n liegt. Auch eine Wimpelkett­e. Oft Gewitter. Dass es fürs Buffet keine Vorgaben gibt. Sein Grillgut muss jeder für sich mitbringen, dazu etwas für alle. Selten, dass es etwas doppelt gibt, einmal kurioserwe­ise gebratene Zucchini, einmal mit, einmal ohne Knoblauch, wie gesagt, die Ausnahme. Legendär der Bienenstic­h! Gedichte wurden schon vorgetrage­n, ein Straßenqui­z gemacht. Noch nie aber passierte, was die Freundin mit einem gewissen zufriedene­n Stolz erzählt: „Bei uns kommt jedes Jahr die Polizei.“Weíl es zu spät ist, zu laut. Aber natürlich wisse die Nachbarsch­aft auch, wer die Streife ruft …

„Ach, dazu sind wir zu bürgerlich“, sagt Annegret Lamey. Mittlerwei­le geht sie eher als eine der Ersten als der letzten: „Da höre ich sie dann alle noch brabbeln …“

Wir gingen an jenem ersten Abend früh. Danach oft später.

Das Nebeneinan­der zufällig, das Miteinande­r bedeutend

Also am besten mal Zeit, Bierbank und Essen teilen

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Foto: AZ‰Archiv, privat

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