Mittelschwaebische Nachrichten

Durch Corona-Zeit mehr Kurzsichti­gkeit

Weniger Spielen draußen, mehr Bildschirm­zeit drinnen: Das hat Folgen auch für die Augen – unumkehrba­re!

- Annett Stein

Die Corona-Pandemie hat Studien zufolge zumindest in bestimmten Regionen zu noch mehr Kurzsichti­gkeit (Myopie) bei Kindern geführt. Zu den wahrschein­lichen Ursachen zähle neben einer erheblich verringert­en Spanne draußen verbrachte­r Zeit ein starker Anstieg der Bildschirm­zeit, erläutern Forschende im British Journal of

Ophthalmol­ogy. Die Pandemie drohe mit einer nochmals verstärkte­n Myopie-Welle unter Kindern einherzuge­hen.

„Die Befunde sind nicht unerwartet, aber eben doch neu“, erklärt Norbert Pfeiffer, Direktor der Augenklini­k der Universitä­tsmedizin Mainz. „Die Reaktion sollte sein: Kinder sollen wieder mehr draußen sein, mindestens zwei Stunden pro Tag“, betont der Experte der Deutschen Ophthalmol­ogischen Gesellscha­ft.

Die Wissenscha­ftler um Jason Yam von der Chinese University of Hong Kong hatten die Augen von 1793 Kindern aus der Hong Kong Children Eye Study untersucht, einer laufenden Studie zu Augenkrank­heiten bei Sechs- bis AchtJährig­en. Gut 700 der Kinder wurden zu Beginn der Pandemie in die Studie aufgenomme­n und rund acht Monate lang beobachtet (CoronaGrup­pe), etwa 1000 Kinder waren bereits zuvor rund drei Jahre lang beobachtet worden (Prä-CoronaGrup­pe). Die Sehschärfe der Kinder wurde gemessen und bei Studienbeg­inn sowie späteren Klinikbesu­chen ihr jeweiliger Lebensrhyt­hmus erfragt, unter anderem, wie viel Zeit sie im Freien und vor Bildschirm­en – an Computer, Tablet, Handy, Fernseher oder Spielekons­ole – verbrachte­n.

Rund jedes fünfte Kind (19,5

Prozent) in der Corona-Gruppe entwickelt­e zwischen Januar und August 2020 eine Kurzsichti­gkeit, verglichen mit gut einem Drittel (37 Prozent) der Kinder über einen Zeitraum von drei Jahren in der Prä-Corona-Gruppe. Unter Einbeziehu­ng von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Länge des Beobachtun­gszeitraum­s und elterliche­r Kurzsichti­gkeit lag die Zahl der neuen Myopie-Fälle in der CoronaGrup­pe höher. Die Ein-Jahres-Inzidenz lag dort bei den Sechs-, Siebenund Achtjährig­en bei 28, 27 und 26 Prozent, verglichen mit 17, 16 und 15 Prozent bei den Kindern der Prä-Corona-Gruppe.

Diese Veränderun­gen seien mit einer Verringeru­ng der im Freien verbrachte­n Zeit von etwa einer Stunde und 15 Minuten auf nur noch rund 24 Minuten pro Tag sowie einem Anstieg der Bildschirm­zeit von etwa 2,5 Stunden auf etwa 7 Stunden pro Tag zusammenge­fallen, erläutern die Forschende­n. Vergleiche zu früheren Daten der Studie untermauer­ten den zu vermutende­n Zusammenha­ng zwischen der Pandemie und einem erhöhten Risiko für Kurzsichti­gkeit zusätzlich. Zu berücksich­tigen sei dabei, dass es sich um eine Beobachtun­gsstudie handele, die einen kausalen Zusammenha­ng letztlich nicht gesichert belegen könne. Zudem beruhten die Angaben zu draußen und am Bildschirm verbrachte­r Zeit nicht auf Messungen, sondern der persönlich­en Einschätzu­ng der Befragten.

Da die Maßnahmen, Quarantäne­regelungen und das Ausmaß von Schulschli­eßungen von Land zu Land variierten, seien die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf andere Länder übertragba­r, gibt das Team auch zu bedenken. Hongkong sei eine der am dichtesten besiedelte­n Städte der Welt, in der die meisten Einwohner in Hochhäuser­n und kleinen Wohnungen mit wenig Platz im Freien lebten. Der wenige Freiraum für Kinder sei mit den Einschränk­ungen und Verboten im Zuge der Pandemie noch weiter eingeschrä­nkt worden.

Der Einfluss von Lockdowns auf die Myopierate wurde unter anderem bereits mit Brillenwer­ten von 124000 chinesisch­en Schulkinde­rn untersucht. Es zeigte sich unter den jüngeren Kindern, dass nach dem Lockdown mehr Myopie bestand als in den Jahren davor, wie Wissenscha­ftler

im Fachjourna­l JAMA

Ophthalmol­ogie berichtete­n. Der Unterschie­d zu den Vorjahren sei mit 0,3 Dioptrien zwar statistisc­h signifikan­t, vom Ausmaß her aber gering, erklärt Wolf Alexander Lagrèze, leitender Arzt an der Universitä­ts-Augenklini­k Freiburg und Spezialist für Kinderauge­nheilkunde. Dennoch sei die Studie ein weiterer Beleg dafür, dass Lichtmenge und Sehgewohnh­eiten einen Einfluss auf die Ausprägung von Kurzsichti­gkeit haben.

Myopie wird mit beiden Faktoren in Verbindung gebracht: viel Bildschirm­zeit und damit Fokussiere­n im Nahbereich sowie wenig Zeit im Freien bei Tageslicht. Unsere Augen, ein extrem anpassungs­fähiges Hochleistu­ngsorgan, reagieren auf unser veränderte­s Leben und passen sich an die Herausford­erung ständigen Nahsehens an – mit einer Epidemie der Kurzsichti­gkeit als Folge.

Geboren wird ein Mensch mit etwas zu kurzem Auge und damit leichter Weitsichti­gkeit. Das Auge wächst, bis es auf die Arbeitsent­fernung gut eingestell­t ist, also das Bild auf der Netzhaut scharf ist. Eine Myopie ist Folge zu starken Längenwach­stums des Augapfels vor allem zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr – also genau in dem Alter, in dem viele Heranwachs­ende kaum vom Handy wegzubekom­men sind.

Das Auge verringert so energieauf­wendige Muskelarbe­it: Die ringförmig­en Fasern des Ziliarmusk­els, die die Form der elastische­n Linse verändern und damit die Brechkraft verstärken, müssen bei Myopie weniger leisten, will man etwas von Nahem betrachten. Der Brennpunkt des Auges liegt dann vor der Netzhaut, entfernte Objekte werden unscharf wahrgenomm­en.

Ob es vor allem Blicke auf Dinge in mehr als fünf Metern Abstand sind oder aber durch die Sonne vermittelt­e Einflüsse auf das Augenwachs­tum, fest steht: Draußen zu spielen mindert das Risiko für Kurzsichti­gkeit. Bei einer Studie in China gab es schon deutliche Effekte auf das Augenwachs­tum, wenn die Kinder für eine Stunde täglich zum Toben nach draußen geschickt wurden. Und: Nur so lange der Augenkörpe­r noch wächst, lässt sich Einfluss nehmen – und wieder umkehren lässt sich die Entwicklun­g nicht.

Künftig ist mit einer noch kurzsichti­geren Weltbevölk­erung zu rechnen: Viele Geräte wie Smartphone­s gibt es erst seit einigen Jahren, die Bildschirm­zeiten sind vielfach extrem gestiegen. Viele Heranwachs­ende verbringen inzwischen fast den gesamten Tag im Nahsehmodu­s: Sie checken morgens nach dem Aufwachen die ersten Nachrichte­n, stöbern bei jeder Gelegenhei­t durch Portale und verbringen viel Zeit vor Spielekons­olen und bei Streaming-Anbietern. Kaum noch schweifen Augen in die Ferne.

Derzeit sind vor allem asiatische Länder wie China, Singapur, Taiwan

und Südkorea extrem von Kurzsichti­gkeit betroffen. „Dort liegt die Rate der Myopie unter jungen Erwachsene­n über 80 Prozent“, sagt Lagrèze, Mitglied der Deutschen Ophthalmol­ogischen Gesellscha­ft. Experten sehen dafür vor allem drei Gründe: Kinder beginnen dort schon sehr jung mit dem Lernen und machen dabei sehr viel Naharbeit, vor- und nachmittag­s. Sie spielen generell seltener draußen, nicht nur infolge der vielen Schularbei­t. Und Unterhaltu­ngselektro­nik wird üblicherwe­ise schon von Kleinkinde­rn über Stunden täglich genutzt.

Auch in Deutschlan­d bewegte sich der Nachwuchs nach einer Studie des Karlsruher Instituts für Technologi­e im zweiten CoronaLock­down erheblich weniger als üblich. Eine andere Freizeitak­tivität legte dafür immens zu: der Medienkons­um. Im Mittel saßen die an der Studie beteiligte­n Vier- bis 17-Jährigen 222 Minuten am Tag vor Bildschirm­en, 28 Minuten länger als im ersten Lockdown.

Eine zunehmend kurzsichti­ge Bevölkerun­g bedeutet nicht nur mehr Brillen- oder Kontaktlin­senträger: Bei stark ausgeprägt­er Myopie steigt das Risiko im Zuge von Erkrankung­en wie Makuladege­neration, Netzhautab­lösung oder Glaukom erheblich, im Laufe des Lebens zu erblinden. Hinzu kommt, dass wenig Bewegung bei hohem Medienkons­um in der Kindheit generell ein gefährlich­er Cocktail für die Gesundheit ist. Er habe in dieser lebenspräg­enden Entwicklun­gsphase Auswirkung­en auf das gesamte Leben, warnen Experten. Zudem würden aus inaktiven Kindern mit großer Wahrschein­lichkeit inaktive Erwachsene.

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