Mittelschwaebische Nachrichten
„Geheimnisse können gute Dienste leisten“
Der preisgekrönte Schriftsteller Georg Klein kehrt mit dem Roman „Bruder aller Bilder“zu seinen Wurzeln nach Augsburg zurück. Er spricht über die berührenden Hintergründe – und über das befremdliche Leben heute
Herr Klein, Sie leben seit einigen Jahren in Ostfriesland, sind ein Schriftsteller mit viel Sinn fürs Fantastische: Man kann sich vorstellen, dass Sie am Schreibtisch am Rand der Welt ganz gut durch die vergangenen eineinhalb Jahre des gesellschaftlichen Lebens im Ausnahmezustand gekommen sind. Oder sind das nur Klischees?
Georg Klein: Anfang August bin ich zum zweiten Mal geimpft worden – im Drive-in-Verfahren auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Ich musste hierzu nicht einmal das Auto verlassen. Die Pandemie machte mir bislang vor allem das eine oder andere Privileg deutlich. Vor allem: Ich darf auf dem Land leben und kann zu Hause arbeiten. In Ihren Büchern ging es schon weit in die Zukunft und bis zum Mars. Jetzt mit dem neuen, „Bruder aller Bilder“, kehren Sie nach dem prämierten „Roman unserer Kindheit“wieder zu Ihren Wurzeln nach Augsburg zurück – ohne die Stadt zu nennen zwar, aber mit Rosenau-Stadion und Siebentischwald und Puppenkiste… Was war diesmal der Antrieb?
Klein: Vor etwa zehn Jahren bin ich mit meinem mittlerweile verstorbenen jüngeren Bruder zuerst an die neue Arena des FCA und von dort an das stillgelegte Rosenau-Stadion geradelt. Während wir nebeneinander in die Pedale traten, versuchten wir zu synchronisieren, was uns unser jeweiliges Erinnern für diese Wegstrecke an Bildern und Gefühlen zuspielte. Es war viel, eigentlich mehr, als ein Roman fassen konnte. Diese Fülle hatte etwas Trauriges, denn die einst beteiligten Menschen und ihr damaliges Tun standen nicht selten schon im Schlagschatten des kommenden Vergessenwerdens. Diese Trauer zwischen einer fiktiven Arena und einem fiktiven Stadion in etwas Tröstliches zu verwandeln, schien mir eine schöne, aber nicht einfache Aufgabe. Im Roman wird den drei Helden unter anderem von Tieren und Pflanzen bei dieser Weltwerdung geholfen. Und für hier noch bizarrer: Im Buch spielt die „Allgemeine“als Zeitung vor Ort eine wichtige Rolle. Moni, die mit ihrem Autorenkürzel meist „MoGo“genannt wird, und der Reporter-Haudegen Schmuck sind zwei Hauptfiguren, der Rahmen ist eine mehrtägige gemeinsame Recherche … Was hat Sie daran interessiert? Eine gewisse Lust am satirischen Blick auf das regionaljournalistische und das redaktionelle Treiben scheint da jedenfalls durch …
Klein: Mein Onkel Karl, jüngerer Bruder meiner Mutter, hat, als ich ein kleiner Junge war, Spielberichte für das Vereinsblatt des BCA, des Vorgängervereins des heutigen
FCA, geschrieben. Ich kann mich erinnern, wie er nach einem besonders spektakulären sonntäglichen Match bei uns vorbeikam und seufzend beteuerte, ein derart großartiges Spiel lasse sich unmöglich in Worten zusammenfassen. Mein Vater forderte ihn auf, uns doch erst einmal einfach zu erzählen, was da alles auf dem grünen Rasen geschehen sei. Und dann holte er Block und Kugelschreiber aus der Küchentischschublade, und die beiden Männer, die ihre Familien während der Woche als Elektriker und Maurer ernährten, machten sich gemeinsam an die Arbeit. „Unglaublich, Helmut!“, meinte mein Onkel zuletzt. „Das klingt, als wärst auch du dabei gewesen!“Meine Bewunderung für diese beiden wackeren Texter ist bis heute ungebrochen: Beherzt stellten sie ihre Vision des Geschehenen neben die flüchtige Realität der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung. So kommen auch die Kolumnen zustande, die der Sportreporter Addi Schmuck im Roman für seine „Allgemeine“schreibt. Wie eigentlich immer ist es ziemlich schwer, über einen genauen Inhalt Ihres Romans zu sprechen. Denn vom Titel bis hin zu dem, um was es eigentlich in dieser Recherche geht und was letztlich wirklich passiert… – nach fast ungewöhnlich leichtfüßigem Auftakt entwickelt sich immer mehr eine
Klein: Im Idealfall überlebt ein Roman seine erste Lektüre und verlockt zu einer zweiten. Ein solches Überleben ist alles andere als selbstverständlich. Die Mehrzahl der Bücher, die wir erwerben oder geschenkt bekommen, werden, selbst wenn sie uns gefallen haben, kein weiteres Mal aufgeschlagen. Während der Niederschrift bin ich zwangsläufig an jedem Arbeitsvormittag ein Wiederleser. Wenn der Roman sich dabei etwas von mir wünschen dürfte, würde er mir womöglich zuflüstern: „Mach mich so, dass ich vielleicht noch einmal – ein zweites Mal! – von vorne gelesen werde!“Ich versuche, ihm diesen Gefallen zu tun. Das eine oder andere Geheimnis kann hierbei gute Dienste leisten. Bei aller äußeren Verrätselung bleiben Sie – geradezu als Gegenbewegung – im Inneren Ihres Erzählens aber immer besonders eines: konkret sinnlich. Wie die Sprache hier fast schon synästhetisch Bilder schafft, die Wahrnehmung der Welt selbst erfahrbar wird: Ist dieses Beleben durch Sprache die Freude Ihres Schreibens?
Klein: Die entscheidende Belebung vollzieht sich in der Fantasie des Lesenden. Mein vorgängiges Tun, die Niederschrift und die Arbeit an den Sätzen, kann hierzu schon eine Menge beitragen. Aber eine Garantie dafür, dass eine Szene im Vollzug der Lektüre, also in der fließenden Imagination, scheinbar sinnlich aufflammt, gibt es nicht. Auf beiden Seiten, beim Schreiben wie beim Lesen, braucht es Mut zum Risiko, aber auch Demut und Zähigkeit, ja sogar Glück, die Gunst des Augenblicks …
Klein:
Einzelne Wörter zu tabuisieren oder bestimmte Schreibungen für absolut verbindlich zu erklären, liegt mir fern. Wer meint, unsere Sprache maßregeln zu müssen, darf dies selbstverständlich in seinen eigenen Texten und im eigenen täglichen Sprechen versuchen. Ich gucke und höre mir gerne an, wie das jeweilige Ergebnis aussieht, und übe mich in kritischer Toleranz. Kritik und Toleranz, beides müssten wir im Zweifelsfall aufbringen können. Vielleicht ist ab und an sogar Humor möglich!
Klein: Alle, deren Geburtstag mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt, haben einen enormen technologischen Wandel miterlebt. Der Siegeszug der digitalen Gerätschaften wird nicht selten mit dem, was wir unter „Fortschritt“verstehen, gleichgesetzt. Wenn ich früher auf dem Weg zu einer auswärtigen Lesung am jeweiligen Bahnhof eintraf, genügte es, die Adresse des meist bahnhofsnahen Hotels parat zu haben. Spätestens der zweite, allenfalls der dritte Einheimische, bei dem ich mich nach der fraglichen Straße erkundigte, war in der Lage, mir den Weg zu erklären. Heute wird sogleich das Smartphone gezückt, um dann – nicht selten recht umständlich und langwierig – herauszufinden, dass ich nach einmal Rechtsabbiegen schon am Ziel angelangt bin. Technologien, die uns Ermächtigung versprechen, führen nicht selten in neue Formen von Abhängigkeit oder Ohnmacht.
„Im Idealfall überlebt ein Roman seine erste Lektüre“
Geschichte der vielen Ebenen, zwischenzeitlich mit Suspense-artiger Spannung, dann wieder mit Stimmen und Bildern über Tod und Zeiten hinweg. Warum diese Verrätselung? Soll, wer Georg Klein liest, nie genau wissen, was er da eigentlich in Händen hält, alles für möglich halten und sich herausgefordert fühlen? „Der Auskenner“, der ja quasi als Dritter im Zentrum Ihres neuen Buches steht, wirkt, noch mehr als der Reporter Schmuck schon, wie ein Mann der alten, analogen Zeit, beheimatet und kundig in der konkreten Mit- und Umwelt. Und er wirkt sehr interessant und sympathisch – das Surren der Neuen Medien dagegen eher befremdlich, bizarr. Klingt da auch eine Skepsis des Autors durch? Für einen Sprachkünstler wie Sie: Wie wirken da all die Debatten, die gerade in der Gesellschaft geführt werden und bei denen der Gebrauch von Wörtern nach einer neuen Korrektheit gefordert wird, ohne die ästhetischen Veränderungen zu berücksichtigen? Oder ist das für den Künstler nicht von Belang und darf es nicht sein?
Klein: Mittlerweile hat mein Verlag trotz Corona eine Reihe von Lesungsterminen vereinbaren können. Wenn ein Augsburger Veranstalter Lust bekommt, mich mit dem neuen Roman einzuladen, würde ich mich, mit Maske vor Mund und Nase, sehr gern auf den Weg in die alte Heimat machen. Vorlesen möchte ich dann aber lieber „unmaskiert“. Werden Sie mit dem Roman auch wieder zum Ort des Geschehens, nach Augsburg kommen?