Mittelschwaebische Nachrichten

Der Bomber, der keiner war

Gerd Müller hatte einen siebten Sinn für den Weg des Balles. Ohne ihn wäre der FC Bayern nicht zur Weltmarke aufgestieg­en – und Deutschlan­d 1974 nicht Weltmeiste­r geworden. Er selbst konnte sich zuletzt nicht mehr an seine Erfolge erinnern. Die Fans werde

- VON ANTON SCHWANKHAR­T

München Wer in den 70er Jahren mit dem Fußball aufgewachs­en ist, hat viele wunderbare Bilder im Kopf, die ihn oder sie ein Leben lang begleiten werden. Nicht wenige zeigen einen untersetzt­en Kerl mit kräftigen Oberschenk­eln, der immer wieder für das größte Glück sorgte, das einem damals Zehnjährig­en, neben dem Bonanza-Rad unterm Weihnachts­baum, begegnen konnte.

Manchmal, wie an jenem Sommeraben­d 1970, als beim Stand von 0:2 gegen England das WM-Aus heraufzog und uns die Kehle zuschnürte, hat Gerd Müller seine kurzen Haxen wie eine Ballerina gespreizt und den Ball mit der Fußspitze ins englische Netz bugsiert. Hölle und Himmel! Wie viele Tränen hat er uns erspart und uns vier Jahre später zu Weltmeiste­rn gemacht. Eine Müller-Rotation auf der Fläche eines Bierdeckel­s – und der Titel war unser. Wir werden uns noch daran erinnern, wenn wir unseren ersten Kuss schon lange vergessen haben.

Nur Gerd Müller wusste schon seit einigen Jahren nichts mehr davon. Der Jahrhunder­t-Torjäger litt an Alzheimer. „Er ist immer ein Kämpfer gewesen, war immer tapfer. Das ist er auch jetzt. Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“, sagte seine Frau Uschi anlässlich Müllers 75. Geburtstag am 3. November 2020 der Bild-Zeitung. Gestern am frühen Morgen ist er in einem Pflegeheim gestorben.

Alzheimer ist unheilbar. Die Krankheit lässt die Menschen langsam verschwind­en. Müllers Verschwind­en begann 2011. Das Taxi, das von Trento aufbrach, kam nicht weit. Schon nach wenigen hundert Metern ließ sich der kleine Mann mit den grauen Haaren und dem gepflegten Vollbart am Bahnhof absetzen. Es war fünf Uhr morgens. Der Fahrgast hatte bemerkt, dass er nicht genügend Geld für eine derart weite Fahrt dabeihatte. Er wollte den Zug nehmen. Mit der Bahn aber ist er dann auch nicht gefahren. Desorienti­ert und verwirrt sei er gewesen, als Polizisten Gerd Müller am frühen Morgen aufgriffen, hieß es. Seine Frau Uschi, mit der Müller seit 54 Jahren verheirate­t war, hat ihn damals aus Norditalie­n abgeholt. Uschi war immer da, wenn Gerd sie gebraucht hat. Und das war häufig der Fall.

Der FC Bayern, der Müller als Nachwuchst­rainer beschäftig­t hatte, spielte den Vorgang damals herunter. Der Verein, der seinen Spielern – mehr als man es angesichts seines breitbeini­gen Auftretens glauben möchte – nicht nur Arbeitgebe­r, sondern auch Retter in verschiede­nsten Malaisen des Lebens war, hat Müller auch hier geschützt und gestützt. Irgendwann war die Erkrankung nicht mehr geheim zu halten.

Eine Zeitlang ist die Hülle des Menschen noch da, während der Geist sich verflüchti­gt. Dann bleibt auch ihr nur noch das Refugium der Familie oder das Pflegeheim. In Deutschlan­d leiden etwa 1,6 Millionen Menschen an einem Stadium der Demenz, die meisten an Alzheimer. Sie bedürfen intensiver Betreuung und Pflege.

Als am Abend des 6. Oktober 2015 die Nachricht von Müllers Erkrankung über die Agenturen lief, blieb nicht nur in vielen Sportredak­tionen für Momente die Zeit stehen. Es waren die alten Bilder in den Köpfen, die nicht zu einem dementen Jahrhunder­tstürmer passen wollen. Wie der Sport in seiner kraftstrot­zenden, leistungso­rientierte­n Jugendlich­keit überhaupt immer irritiert, wenn er auf Verfall und Ende trifft. In wenigen Fußballern auf der ganzen Welt war das Außergewöh­nliche derart konzentrie­rt wie in den 1,76 Metern, über die sich ein erstaunlic­h rundlicher Körper erstreckte.

Für einen Weltklasse­stürmer war der gebürtige Nördlinger eigentlich zu klein und zu pummelig. „Kleines dickes Müller“, hat ihn Zlatko „Tschik“Cajkovsky gerufen, sein erster Trainer beim FC Bayern. Der Jugoslawe durfte das. Er war kleiner als Müller und dennoch einer der besten Außenstürm­er der Welt gewesen.

Gerd Müller wurde als jüngstes von fünf Kindern in Nördlingen geboren und wuchs in einfachen Verhältnis­sen auf. Ein Straßenfuß­baller wie viele in seiner Zeit. Aber anders als andere war Hadde, wie er in Ableitung seines Vornamens Gerhard gerufen wurde, schüchtern und bescheiden. Als Zwölfjähri­ger schloss er sich dem TSV Nördlingen an, dessen Spielstätt­e ein halbes Jahrhunder­t später zum „Gerd-MüllerStad­ion“ernannt wurde.

Mit 14 begann er eine Weberlehre. Mit 17 debütierte er in der Nördlinger Männermann­schaft, die er praktisch im Alleingang in die Landesliga schoss. Nach 47 Toren in 28 Partien war klar, dass im Ries ein Juwel heranwuchs. Eines, das sich der damalige Bundesligi­st 1860 München gerne gesichert hätte. Doch der FC Bayern war eine Stunde früher im Hause Müller aufgekreuz­t. Für 4400 Mark Ablöse wechselte der spätere Jahrhunder­tstürmer zu den Roten. Nebenher arbeitete er halbtags bei einem Möbelhändl­er.

Müllers Start beim damaligen Regionalli­gisten FC Bayern verlief holprig. „Was soll ich mit dieses Junge, diese Figur, unmöglich“, maulte Trainer Cajkovsky und ließ den Nördlinger links liegen. Erst als der allmächtig­e Vereinsprä­sident Wilhelm Neudecker Druck machte, durfte Müller spielen. Am Ende der Aufstiegss­aison in die Bundesliga hatte „kleines dickes Müller“39 Mal getroffen. Sein außergewöh­nliches Talent, aus beinahe jeder Lage ein Tor zu erzielen, war nun nicht mehr zu übersehen. Müller hatte einen siebten Sinn für den Weg des Balles und ein ausgeprägt­es Gefühl für Raum und Zeit. Er traf im Liegen, Stehen und Fallen, mit Fuß, Kopf, Oberschenk­el, Knie – bevorzugt aus der Drehung. Auf diese Weise hat er es in den Duden geschafft. „Müllern“nannte man das, was Müller tat. Ein „Bomber der Nation“, wie er fälschlich beschriebe­n wurde, war er nicht. Er traf selten spektakulä­r oder aus großer Distanz. Sein Stilmittel war Raffinesse, nicht Kraft. Müllers 40 Tore aus der Bundesliga-Saison 1971/72 waren fast ein halbes Jahrhunder­t lang Bundesliga-Rekord. Vergangene Saison übertraf ihn Robert Lewandowsk­i mit 41 Treffern.

Müllers Tore waren Grundlage für die Entwicklun­g des FC Bayern zum deutschen Rekordmeis­ter und internatio­nal ruhmreichs­ten Aushängesc­hild der Bundesliga. Von 1974 bis 76 gewannen die Münchner dreimal hintereina­nder den Europapoka­l der Landesmeis­ter, geprägt von der Achse Maier – Beckenbaue­r

– Müller. Müller war auf dem Zenit seines Könnens. Deutscher Meister, Europapoka­lsieger der Landesmeis­ter, Weltmeiste­r – er schoss in allen Wettbewerb­en die entscheide­nden Treffer. „Ohne Gerd Müllers Tore“, hat Franz Beckenbaue­r später immer wieder die Verdienste des Nördlinger­s in den 60er und 70er Jahren hervorgeho­ben, „würden sich die Spieler des FC Bayern heute noch in einer Holzbarack­e umziehen.“Auch wenn bekannt ist, dass Beckenbaue­r gerne vereinfach­t, ist die Botschaft klar. Ohne einen Müller, der auf unerklärba­re Art all die Bälle, die Beckenbaue­r & Co. nach vorne geschaufel­t hatten, ins gegnerisch­e Tor bugsierte, wären die Münchner nie zur Weltmarke aufgestieg­en – und natürlich 1974 Deutschlan­d nicht Weltmeiste­r geworden.

So wie der FC Bayern hat auch die Nationalel­f von seinen Toren profitiert. Zehn Müller-Treffer bei der WM 1970 mit der anschließe­nden Kür zu „Europas Fußballer des Jahres“waren ein Höhepunkt seiner Karriere. Müller war der erste deutsche Spieler, dem diese Ehre zuteilwurd­e. Vier Jahre später: der WMTriumph in Deutschlan­d. 2:1 im Finale gegen Holland. Die deutschen Torschütze­n waren Breitner und natürlich Müller.

Nach dem Abschied vom FC Bayern 1979 zog es Müller dorthin, wo sich damals alle Großen der Fußballwel­t noch ein üppiges Übergangsg­eld verdienten – in die USA. Mit den Fort Lauderdale Strikers traf er auf andere Altstars wie Carlos Alberto oder Franz Beckenbaue­r. 1982 war Schluss mit Fußball.

Es begann die schwierige Zeit in Gerd Müllers Leben. Auf die Frage, was er nach der Profikarri­ere macht, hatte er keine befriedige­nde Antwort. Müller hat immer die Sicherheit gefehlt, sich neben dem Platz so zu bewegen, wie sich das Franz Beckenbaue­r im Laufe der Zeit erworben hat. Als Fußballpen­sionär übernahm Müller als Teilhaber ein Steakhouse, in dem er den prominente­n Gastgeber spielen sollte. Er, der auch nach zwei Jahren in den USA kaum einen Satz Englisch sprach, in der Rolle des Unterhalte­rs.

Das musste schiefgehe­n. Müller fand sich in seinem neuen Leben nicht zurecht und begann zu trinken. Schon gegen Ende seiner Karriere, als das Denkmal Müller rapide bröckelte, war er regelmäßig mit einer Alkoholfah­ne im Training erschienen. In seinem Lokal wurde er zum Säufer. Dazu kamen finanziell­e Probleme.

Ohne Perspektiv­e kehrte er mit seiner Frau Uschi, die in der Anfangszei­t seiner Karriere auch seine Managerin war, und seiner Tochter Nicole nach München zurück. Aber auch hier wusste er nichts mit sich anzufangen. Er hatte keine Aufgabe mehr. Saß nur rum. Stürzte in eine Lebenskris­e. 1991 kehrte er in seiner Not wieder häufiger nach Nördlingen zurück – in seine Heimatstad­t, zu der er in den Jahren nach seinem Weggang ein gespaltene­s Verhältnis entwickelt hatte. Zur Beerdigung

Eine Müller‰Rotation auf der Fläche eines Bierdeckel­s

Die innere Leere betäubte er mit Alkohol

der Mutter war er erst aufgetauch­t, als der offizielle Teil des Begräbniss­es vorbei gewesen war.

Die innere Leere Anfang der 90er Jahre betäubte er mit Alkohol – bis sich Franz Beckenbaue­r und Uli Hoeneß seiner annahmen. Nach einer erfolgreic­h abgeschlos­senen Entziehung­skur, in der Müller phasenweis­e ans Bett gefesselt war, schien sich das Leben des erfolgreic­hsten Fußballstü­rmers aller Zeiten wieder zum Guten zu wenden. Der FC Bayern beschäftig­te Müller als Assistenz- und Nachwuchst­rainer. Bei Bundesliga­spielen saß er auf der Auswechsel­bank. Müller war beschäftig­t, und das in der einzigen Welt, in der er zu Hause war. Fast 20 Jahre lang, bis ihn die Demenz herausriss. „Heute steht die Welt des FC Bayern still“, sagte BayernVere­inspräside­nt Herbert Hainer am Sonntag.

Wenn seine Erkrankung und sein Tod irgendeine­n Sinn hatten, dann den, der Demenz ein Gesicht zu geben. Er selbst hat das nicht mehr verstanden. Uns bleiben die Bilder und die Erinnerung an einen großartige­n Fußballer.

 ?? Fotos: Baum, UPI, dpa, Archiv ?? Sein Weg zum Jahrhunder­tstürmer: (von oben links nach unten rechts) Gerd Müller begann als Jugendspie­ler beim TSV Nördlingen – und kannte dann nur eine Richtung: hin zum Tor. Etwa beim WM‰Halbfinale 1970 gegen Italien, zwei Jahre später bei der EM gegen England und 1974, als Müller Deutschlan­d mit einer legendären Drehung zum WM‰Titel gegen die Niederland­e führte. An seiner Seite: Paul Breitner. 1983 sagte der FC Bayern seinem Torschütze­nkönig: „Servus Gerd!“
Fotos: Baum, UPI, dpa, Archiv Sein Weg zum Jahrhunder­tstürmer: (von oben links nach unten rechts) Gerd Müller begann als Jugendspie­ler beim TSV Nördlingen – und kannte dann nur eine Richtung: hin zum Tor. Etwa beim WM‰Halbfinale 1970 gegen Italien, zwei Jahre später bei der EM gegen England und 1974, als Müller Deutschlan­d mit einer legendären Drehung zum WM‰Titel gegen die Niederland­e führte. An seiner Seite: Paul Breitner. 1983 sagte der FC Bayern seinem Torschütze­nkönig: „Servus Gerd!“
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Foto: Peter Kneffel, dpa Der FC Bayern schützte und unterstütz­te Gerd Müller nach seiner Karriere – und stell‰ te ihn als Jugendtrai­ner an.
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