Mittelschwaebische Nachrichten
Der Bomber, der keiner war
Gerd Müller hatte einen siebten Sinn für den Weg des Balles. Ohne ihn wäre der FC Bayern nicht zur Weltmarke aufgestiegen – und Deutschland 1974 nicht Weltmeister geworden. Er selbst konnte sich zuletzt nicht mehr an seine Erfolge erinnern. Die Fans werde
München Wer in den 70er Jahren mit dem Fußball aufgewachsen ist, hat viele wunderbare Bilder im Kopf, die ihn oder sie ein Leben lang begleiten werden. Nicht wenige zeigen einen untersetzten Kerl mit kräftigen Oberschenkeln, der immer wieder für das größte Glück sorgte, das einem damals Zehnjährigen, neben dem Bonanza-Rad unterm Weihnachtsbaum, begegnen konnte.
Manchmal, wie an jenem Sommerabend 1970, als beim Stand von 0:2 gegen England das WM-Aus heraufzog und uns die Kehle zuschnürte, hat Gerd Müller seine kurzen Haxen wie eine Ballerina gespreizt und den Ball mit der Fußspitze ins englische Netz bugsiert. Hölle und Himmel! Wie viele Tränen hat er uns erspart und uns vier Jahre später zu Weltmeistern gemacht. Eine Müller-Rotation auf der Fläche eines Bierdeckels – und der Titel war unser. Wir werden uns noch daran erinnern, wenn wir unseren ersten Kuss schon lange vergessen haben.
Nur Gerd Müller wusste schon seit einigen Jahren nichts mehr davon. Der Jahrhundert-Torjäger litt an Alzheimer. „Er ist immer ein Kämpfer gewesen, war immer tapfer. Das ist er auch jetzt. Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“, sagte seine Frau Uschi anlässlich Müllers 75. Geburtstag am 3. November 2020 der Bild-Zeitung. Gestern am frühen Morgen ist er in einem Pflegeheim gestorben.
Alzheimer ist unheilbar. Die Krankheit lässt die Menschen langsam verschwinden. Müllers Verschwinden begann 2011. Das Taxi, das von Trento aufbrach, kam nicht weit. Schon nach wenigen hundert Metern ließ sich der kleine Mann mit den grauen Haaren und dem gepflegten Vollbart am Bahnhof absetzen. Es war fünf Uhr morgens. Der Fahrgast hatte bemerkt, dass er nicht genügend Geld für eine derart weite Fahrt dabeihatte. Er wollte den Zug nehmen. Mit der Bahn aber ist er dann auch nicht gefahren. Desorientiert und verwirrt sei er gewesen, als Polizisten Gerd Müller am frühen Morgen aufgriffen, hieß es. Seine Frau Uschi, mit der Müller seit 54 Jahren verheiratet war, hat ihn damals aus Norditalien abgeholt. Uschi war immer da, wenn Gerd sie gebraucht hat. Und das war häufig der Fall.
Der FC Bayern, der Müller als Nachwuchstrainer beschäftigt hatte, spielte den Vorgang damals herunter. Der Verein, der seinen Spielern – mehr als man es angesichts seines breitbeinigen Auftretens glauben möchte – nicht nur Arbeitgeber, sondern auch Retter in verschiedensten Malaisen des Lebens war, hat Müller auch hier geschützt und gestützt. Irgendwann war die Erkrankung nicht mehr geheim zu halten.
Eine Zeitlang ist die Hülle des Menschen noch da, während der Geist sich verflüchtigt. Dann bleibt auch ihr nur noch das Refugium der Familie oder das Pflegeheim. In Deutschland leiden etwa 1,6 Millionen Menschen an einem Stadium der Demenz, die meisten an Alzheimer. Sie bedürfen intensiver Betreuung und Pflege.
Als am Abend des 6. Oktober 2015 die Nachricht von Müllers Erkrankung über die Agenturen lief, blieb nicht nur in vielen Sportredaktionen für Momente die Zeit stehen. Es waren die alten Bilder in den Köpfen, die nicht zu einem dementen Jahrhundertstürmer passen wollen. Wie der Sport in seiner kraftstrotzenden, leistungsorientierten Jugendlichkeit überhaupt immer irritiert, wenn er auf Verfall und Ende trifft. In wenigen Fußballern auf der ganzen Welt war das Außergewöhnliche derart konzentriert wie in den 1,76 Metern, über die sich ein erstaunlich rundlicher Körper erstreckte.
Für einen Weltklassestürmer war der gebürtige Nördlinger eigentlich zu klein und zu pummelig. „Kleines dickes Müller“, hat ihn Zlatko „Tschik“Cajkovsky gerufen, sein erster Trainer beim FC Bayern. Der Jugoslawe durfte das. Er war kleiner als Müller und dennoch einer der besten Außenstürmer der Welt gewesen.
Gerd Müller wurde als jüngstes von fünf Kindern in Nördlingen geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Ein Straßenfußballer wie viele in seiner Zeit. Aber anders als andere war Hadde, wie er in Ableitung seines Vornamens Gerhard gerufen wurde, schüchtern und bescheiden. Als Zwölfjähriger schloss er sich dem TSV Nördlingen an, dessen Spielstätte ein halbes Jahrhundert später zum „Gerd-MüllerStadion“ernannt wurde.
Mit 14 begann er eine Weberlehre. Mit 17 debütierte er in der Nördlinger Männermannschaft, die er praktisch im Alleingang in die Landesliga schoss. Nach 47 Toren in 28 Partien war klar, dass im Ries ein Juwel heranwuchs. Eines, das sich der damalige Bundesligist 1860 München gerne gesichert hätte. Doch der FC Bayern war eine Stunde früher im Hause Müller aufgekreuzt. Für 4400 Mark Ablöse wechselte der spätere Jahrhundertstürmer zu den Roten. Nebenher arbeitete er halbtags bei einem Möbelhändler.
Müllers Start beim damaligen Regionalligisten FC Bayern verlief holprig. „Was soll ich mit dieses Junge, diese Figur, unmöglich“, maulte Trainer Cajkovsky und ließ den Nördlinger links liegen. Erst als der allmächtige Vereinspräsident Wilhelm Neudecker Druck machte, durfte Müller spielen. Am Ende der Aufstiegssaison in die Bundesliga hatte „kleines dickes Müller“39 Mal getroffen. Sein außergewöhnliches Talent, aus beinahe jeder Lage ein Tor zu erzielen, war nun nicht mehr zu übersehen. Müller hatte einen siebten Sinn für den Weg des Balles und ein ausgeprägtes Gefühl für Raum und Zeit. Er traf im Liegen, Stehen und Fallen, mit Fuß, Kopf, Oberschenkel, Knie – bevorzugt aus der Drehung. Auf diese Weise hat er es in den Duden geschafft. „Müllern“nannte man das, was Müller tat. Ein „Bomber der Nation“, wie er fälschlich beschrieben wurde, war er nicht. Er traf selten spektakulär oder aus großer Distanz. Sein Stilmittel war Raffinesse, nicht Kraft. Müllers 40 Tore aus der Bundesliga-Saison 1971/72 waren fast ein halbes Jahrhundert lang Bundesliga-Rekord. Vergangene Saison übertraf ihn Robert Lewandowski mit 41 Treffern.
Müllers Tore waren Grundlage für die Entwicklung des FC Bayern zum deutschen Rekordmeister und international ruhmreichsten Aushängeschild der Bundesliga. Von 1974 bis 76 gewannen die Münchner dreimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister, geprägt von der Achse Maier – Beckenbauer
– Müller. Müller war auf dem Zenit seines Könnens. Deutscher Meister, Europapokalsieger der Landesmeister, Weltmeister – er schoss in allen Wettbewerben die entscheidenden Treffer. „Ohne Gerd Müllers Tore“, hat Franz Beckenbauer später immer wieder die Verdienste des Nördlingers in den 60er und 70er Jahren hervorgehoben, „würden sich die Spieler des FC Bayern heute noch in einer Holzbaracke umziehen.“Auch wenn bekannt ist, dass Beckenbauer gerne vereinfacht, ist die Botschaft klar. Ohne einen Müller, der auf unerklärbare Art all die Bälle, die Beckenbauer & Co. nach vorne geschaufelt hatten, ins gegnerische Tor bugsierte, wären die Münchner nie zur Weltmarke aufgestiegen – und natürlich 1974 Deutschland nicht Weltmeister geworden.
So wie der FC Bayern hat auch die Nationalelf von seinen Toren profitiert. Zehn Müller-Treffer bei der WM 1970 mit der anschließenden Kür zu „Europas Fußballer des Jahres“waren ein Höhepunkt seiner Karriere. Müller war der erste deutsche Spieler, dem diese Ehre zuteilwurde. Vier Jahre später: der WMTriumph in Deutschland. 2:1 im Finale gegen Holland. Die deutschen Torschützen waren Breitner und natürlich Müller.
Nach dem Abschied vom FC Bayern 1979 zog es Müller dorthin, wo sich damals alle Großen der Fußballwelt noch ein üppiges Übergangsgeld verdienten – in die USA. Mit den Fort Lauderdale Strikers traf er auf andere Altstars wie Carlos Alberto oder Franz Beckenbauer. 1982 war Schluss mit Fußball.
Es begann die schwierige Zeit in Gerd Müllers Leben. Auf die Frage, was er nach der Profikarriere macht, hatte er keine befriedigende Antwort. Müller hat immer die Sicherheit gefehlt, sich neben dem Platz so zu bewegen, wie sich das Franz Beckenbauer im Laufe der Zeit erworben hat. Als Fußballpensionär übernahm Müller als Teilhaber ein Steakhouse, in dem er den prominenten Gastgeber spielen sollte. Er, der auch nach zwei Jahren in den USA kaum einen Satz Englisch sprach, in der Rolle des Unterhalters.
Das musste schiefgehen. Müller fand sich in seinem neuen Leben nicht zurecht und begann zu trinken. Schon gegen Ende seiner Karriere, als das Denkmal Müller rapide bröckelte, war er regelmäßig mit einer Alkoholfahne im Training erschienen. In seinem Lokal wurde er zum Säufer. Dazu kamen finanzielle Probleme.
Ohne Perspektive kehrte er mit seiner Frau Uschi, die in der Anfangszeit seiner Karriere auch seine Managerin war, und seiner Tochter Nicole nach München zurück. Aber auch hier wusste er nichts mit sich anzufangen. Er hatte keine Aufgabe mehr. Saß nur rum. Stürzte in eine Lebenskrise. 1991 kehrte er in seiner Not wieder häufiger nach Nördlingen zurück – in seine Heimatstadt, zu der er in den Jahren nach seinem Weggang ein gespaltenes Verhältnis entwickelt hatte. Zur Beerdigung
Eine MüllerRotation auf der Fläche eines Bierdeckels
Die innere Leere betäubte er mit Alkohol
der Mutter war er erst aufgetaucht, als der offizielle Teil des Begräbnisses vorbei gewesen war.
Die innere Leere Anfang der 90er Jahre betäubte er mit Alkohol – bis sich Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß seiner annahmen. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Entziehungskur, in der Müller phasenweise ans Bett gefesselt war, schien sich das Leben des erfolgreichsten Fußballstürmers aller Zeiten wieder zum Guten zu wenden. Der FC Bayern beschäftigte Müller als Assistenz- und Nachwuchstrainer. Bei Bundesligaspielen saß er auf der Auswechselbank. Müller war beschäftigt, und das in der einzigen Welt, in der er zu Hause war. Fast 20 Jahre lang, bis ihn die Demenz herausriss. „Heute steht die Welt des FC Bayern still“, sagte BayernVereinspräsident Herbert Hainer am Sonntag.
Wenn seine Erkrankung und sein Tod irgendeinen Sinn hatten, dann den, der Demenz ein Gesicht zu geben. Er selbst hat das nicht mehr verstanden. Uns bleiben die Bilder und die Erinnerung an einen großartigen Fußballer.