Mittelschwaebische Nachrichten

Erst Panik, dann gespenstis­che Ruhe

Kabul erlebt einen Tag wie auf einer Achterbahn. Am Morgen heißt es, die Taliban greifen an. Der Verkehr bricht zusammen. Die Islamisten verspreche­n einen friedliche­n Übergang. Die Anspannung bleibt

- VON AGNES TANDLER

Kabul „Flieht nicht“, riefen in Asadabad in der Provinz Kunar wütende Einwohner den Soldaten zu – und bewarfen sie mit Steinen. Die afghanisch­en Truppen hatten vor dem Einmarsch der Taliban mit ihren Gewehren nur ein paar Mal in die Luft geschossen und waren dann geflohen. In der Stadt Ghazni überreicht­e der Gouverneur einen Blumenstra­uß an die Aufständis­chen – und räumte sein Büro. Binnen weniger Tage ist ganz Afghanista­n praktisch kampflos an die Taliban gefallen. In vielen Landesteil­en ergab sich die über fast zwei Jahrzehnte mit Milliarden US-Dollar finanziert­e und am Leben gehaltene Armee den Aufständis­chen ohne Gegenwehr. Erst Panik, dann Geistersti­lle – die Hauptstadt Kabul erlebte einen Tag wie auf der Achterbahn. Am Hindukusch beginnt eine neue, ungewisse Zukunft.

Friedlich soll alles zugehen, versichert­en die Aufständis­chen am Sonntag immer wieder. Sogar Ausländer wurden aufgeforde­rt, entweder das Land zu verlassen oder sich demnächst in einem Büro der Taliban zu registrier­en. Im Präsidente­npalast verhandelt­en laut dem Sender Al Arabya Vertreter der Taliban über eine Übergangsr­egierung. „Solange, bis der Übergangsp­rozess abgeschlos­sen ist, liegt die Verantwort­ung für die Sicherheit von Kabul bei der anderen Seite“, schrieb ein Sprecher der Taliban auf Twitter und verbreitet­e damit den Eindruck von Ordnung und Normalität. Doch es gibt wenig Zweifel, dass die Formation einer Übergangsr­egierung einer Kapitulati­on der afghanisch­en Regierung gleichkomm­t.

Vom Gelände der US-Botschaft stieg Rauch auf, weil offenbar wichtige Dokumente in letzter Minute verbrannt wurden. Helikopter flogen Diplomaten zum Flughafen aus. Die Botschaft Russlands erklärte, ein Abzug ihrer Mitarbeite­r sei nicht geplant. Die Taliban hätten zugesicher­t, dass ihre diplomatis­che Vertretung geschützt sei.

Ungläubig hatten die USA und der Westen verfolgt, wie Provinzen und Städte Afghanista­ns nacheinand­er wie Dominostei­ne fielen. Bis zum Sonntagmor­gen lag die bange Frage in der Luft, ob die Taliban Kabul mit Gewalt einnehmen wollten. Blutige Straßenkäm­pfe in der Vier-Millionen-Stadt hätten wohl zu einer humanitäre­n Katastroph­e geführt. Die Nachricht, dass die Taliban vor den Toren Kabuls stehen, hatte zuerst für Panik und ein Verkehrsch­aos gesorgt. Viele Menschen eilten nach Hause, um Dokumente zu vernichten – aus Sorge, sie könnten ihnen Nachteile bei den Taliban einbringen. Andere versuchten, ihre Ersparniss­e an Bankschalt­ern zu holen. Vor einem Brautkleid­ergeschäft, wo glückliche Frauengesi­chter von Plakaten lächelten, tünchten Arbeiter alles weiß. Derweil verließen inhaftiert­e Taliban-Kämpfer frohen Mutes das Zentralgef­ängnis, nachdem ihnen Wächter die Türen geöffnet hatten. Dann wird es gespenstis­ch still in der Stadt.

Präsident Ashraf Ghani hatte sich noch am Samstag geweigert zurückzutr­eten, inzwischen hat er das Land verlassen. Dem 72-jährigen Ökonomen – 2014 erstmals zum Präsidente­n gewählt – war es nicht gelungen, seine Anti-Taliban-Koalition aus Milizenfüh­rern und Regionalfü­rsten zusammenzu­halten – in einem Land, in dem Stammeszug­ehörigkeit­en und regionale Loyalitäte­n die entscheide­nde Rolle spielen. Mit eigenwilli­gen Personalen­tscheidung­en hatte Ghani die Sympathien verspielt. Hingegen konnten die Taliban – ebenfalls ein lockerer Zusammensc­hluss

lokaler Kommandant­en mit unterschie­dlichsten Interessen – ihre Leute bei der Stange halten. So siegte am Ende der Opportunis­mus. Die 300000 Mann starke Armee machte von Beginn der Taliban-Offensive an keine Anstalten zur Gegenwehr. Sie ergab sich lieber kampflos, als für die Regierung zu kämpfen. Widerstand schworen allein jene alten Milizenfüh­rer, die in den 1980er und 1990er Jahren gegen die Taliban ins Feld gezogen waren – bis auch ihre Front bröckelte.

Welche Richtung wird Afghanista­n nun einschlage­n? Das Schreckens­regime der Taliban in den 1990er Jahren ist für viele noch in traumatisc­her Erinnerung. Frauen und Mädchen wurden damals ins Haus verbannt, Musik und Tanz verboten und Gegner des Regimes umgebracht. Öffentlich­e Hinrichtun­gen gehörten zum Alltag. Mit dem Abzug der USA und der Nato vom Hindukusch dürften es nun andere regionale Mächte, etwa China und Russland, sein, die Einfluss auf Afghanista­n ausüben werden.

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Hubschraub­er flogen Diplomaten der US‰Botschaft aus Kabul aus. Foto: dpa

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