Mittelschwaebische Nachrichten
Im GroßstadtDschungel
Fauna In Stuttgart lebt Europas einzige Kolonie der Gelbkopfamazonen. Nur eins stört sie in der schwäbischen Wahlheimat
Stuttgart Morgens um sieben herrscht in der Stille des nur von einzelnen Joggern, Kampfradlern und Nilgänsen bevölkerten Stuttgarter Schlossgartens plötzlich helle Aufregung. Hoch oben aus dem grünen Laub der alten Baumriesen ist ohrenbetäubendes Geschrei zu hören. 20 Meter über dem Boden ist mächtig Bewegung in den Baumkronen. Plötzlich flattern zwei blattgrüne Papageien mit dickem gelben Schnabel, gelben Köpfen und einer roten Federzeichnung auf und lassen sich auf tieferen Ästen im Sichtfeld der Fotografin nieder. „Das sind Mimi und Rudolfo“, sagt Bianca Hahn nach kundigem Blick durch das 500er-Teleobjektiv ihrer Kamera.
Die Tiere gehören zu der europaweit einzigen freilebenden Kolonie von Gelbkopfamazonen, einer vom Aussterben bedrohten Papageienart. Ihren Lebensraum haben die Tiere im Herzen der Großstadt Stuttgart gefunden, im langen grünen Areal zwischen Bahnstrecke und vierspuriger Bundesstraße, in den Baumhöhlen der alten Platanen von Schlossgarten, Rosensteinpark und Wilhelma. Etwas über 60 Tiere umfasst der Bestand derzeit. Bianca Hahn kennt sie alle – und ihre Lebensund Liebesgeschichten.
Die 49-jährige Fotografin aus der Nähe von Stuttgart ist den Tieren seit über sechs Jahren verfallen, als sie ein befreundeter Ornithologe erstmals auf die seit 35 Jahren hier ansässige Kolonie aufmerksam machte. Im Früh- und Hochsommer, wenn die Papageien brüten und später die Jungen flügge werden, schaut Bianca Hahn nun jeden Tag vor der Arbeit in ihrem Fotoatelier am frühen Morgen bei den
Papageien vorbei. Sie fotografiert, beobachtet die Tiere und benennt sie, dokumentiert und ist über die Jahre zu einer anerkannten Expertin und Referentin über den Stuttgarter Schwarm geworden. An diesem Morgen tummeln sich noch zwei Jungtiere vom letzten Jahr im Revier von Mimi und Rudolfo, die in den Ästen herumtoben. Ein weiteres schaut aus dem Nest. Eine Stunde später ist alles ruhig, die Papageien sind in einem Fünf-Kilometer-Radius in der Umgebung auf Futtersuche und kommen erst am Abend wieder zu ihren Schlafplätzen oder den Nisthöhlen, um den Nachwuchs zu füttern. Wie viel Nachwuchs es in diesem Jahr gegeben hat, wird sich erst später zeigen – wenn die im Sommer verstreut lebenden Papageien sich mit ihren Jungen im Winterrevier im verkehrsreichen Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt versammeln. Dort zeigt sich, wer überlebt. Gefährlich sind nicht die kalten Winter, sondern die menschliche Zivilisation. „Die ersten Monate sind für die Jungvögel die gefährlichsten. Sie prallen gegen Fenster oder Hindernisse, fallen zu Boden, werden von Autos überfahren“, sagt Bianca Hahn. Wenn ein Tier noch lebt nach einem Unfall, wird sie informiert – und bringt es in eine auf Vögel spezialisierte Tierklinik nach Karlsruhe.
Begonnen hat die Stuttgarter Amazonengeschichte 1984 mit einem einzelnen entflogenen oder ausgesetzten Vogel, dem vermutlich Tierfreunde einen Gefährten beistellten. Tatsächlich wurde aus den beiden Gelbkopfamazonen ein Paar, das sich langsam, aber erfolgreich fortpflanzte und an die Umgebung anpasste. 1986 wurden die ersten Jungtiere gesehen, der Bestand wuchs langsam, aber stetig. „Es dauert etwa fünf Jahre, bis die Tiere geschlechtsreif sind“, sagt Bianca Hahn. Und wenn sich ein Pärchen findet, bleibt es in der Regel lange zusammen. Dass es auch bei den Papageien „menschelt“, davon kann Bianca Hahn viele Geschichten erzählen – von verlassenen, vermissten oder trauernden Papageien, von langen und enttäuschten Lieben, sorgenden Müttern und allein erziehenden Vätern.
Die Ornithologin Friederike Wook hat einen weniger emotionalen Blick auf die Amazonen. Sie ist stellvertretende Leiterin des Teams Zoologie und Kuratorin im Stuttgarter Naturkundemuseum und hat den Schwarm in seinen ersten Jahren intensiv beobachtet. „Es ist schon erstaunlich, dass diese Art es geschafft hat, sich anzupassen und hier auch harte Winter zu überleben“, sagt die Vogelkundlerin.
Aus biologischer Sicht trägt der Stuttgarter Schwarm streng genommen aber nicht zur Rettung der weltweit bedrohten Gelbkopfamazonen bei, wie Wook berichtet. Denn durch die vor Jahren erfolgte Einkreuzung mit einer entflogenen Blaustirnamazone und deren Nachkommen ist eine hybride Art entstanden, zu erkennen an den dunkleren Schnäbeln und geringerem Gelbanteil mancher Tiere. „Das gibt es bei den Amazonen immer wieder“, sagt Wook.
Eine Bedrohung für die heimische Flora und Fauna stellen die Neozoen nicht dar. „Die Population vergrößert sich sehr langsam“, so die Ornithologin, und Streit um Nistgelegenheiten und Futter mit heimischen Arten gebe es kaum.