Mittelschwaebische Nachrichten

Fred Uhlman: Der wiedergefu­ndene Freund (11)

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AStuttgart 1932: In die Schule von Hans Schwarz kommt ein Neuer, Konradin von Hohenfels. Eine Freundscha­ft entsteht, bis Hans erkennt, weshalb Konradins Eltern ihn meiden: Sie verach‰ ten Juden. Die Wege trennen sich. Jahre später stößt Hans noch einmal auf Konradin. © 1998 by Diogenes Verlag AG Zürich

ls es zum zweiten Akt klingelte, verließ ich meinen Posten, ging nach Hause und unverzügli­ch zu Bett, ohne mich bei meinen Eltern sehen zu lassen.

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ich träumte, dass mich zwei Löwen und eine Löwin angriffen, und ich muss geschrien haben, denn als ich aufschrak, beugten sich meine Eltern über mein Bett. Der Vater maß meine Temperatur, konnte aber nichts Besorgnise­rregendes finden. Am Morgen ging ich wie üblich zur Schule, obwohl ich mich so zerschlage­n fühlte wie nach einer langen Krankheit. Konradin war noch nicht da. Ich setzte mich sofort und tat, als müsste ich meine Hausaufgab­en durchsehen. Als er hereinkam, blickte ich nicht auf. Auch er setzte sich gleich an seinen Platz und beschäftig­te sich mit seinen Büchern und seinem Schreibzeu­g, ohne mich anzusehen. Aber gleich nach dem Läuten am Ende der Stunde trat er zu mir, legte mir die

Hand auf die Schulter – was er noch nie getan hatte – und stellte mir einige Fragen, allerdings nicht die nächstlieg­ende, wie mir der „Fidelio“gefallen habe. Ich antwortete so unbefangen wie möglich. Nach Schulschlu­ss wartete er auf mich, und wir gingen zusammen heim, als wäre nichts geschehen. Eine halbe Stunde lang hielt ich diese Täuschung durch, obwohl ich genau wusste, dass ihm klar war, was in mir vorging, sonst hätte er nicht ausgeklamm­ert, was für uns beide das Wichtigste war: den gestrigen Abend. Als wir jedoch gerade dabei waren, uns zu verabschie­den, und der eiserne Torflügel sich schon öffnete, gab ich mir einen Ruck und fragte: „Konradin, warum hast du mich gestern Abend geschnitte­n?“

Er musste die Frage erwartet haben, trotzdem traf sie ihn wie ein Schlag. Er wurde erst rot, dann bleich. Vielleicht hatte er doch gehofft, ich würde die Frage unterlasse­n und nach ein paar Tagen des

Schmollens alles vergessen. Eines war klar: Er hatte nicht erwartet, dass ich ihn so offen anging. Er begann zu stottern, er habe mich „überhaupt nicht geschnitte­n“, das seien „Phantaster­eien“, ich sei „überempfin­dlich“und er habe sich doch zu seinen Eltern halten müssen.

Aber ich weigerte mich, dem zuzuhören. „Sieh mal, Konradin“, sagte ich, „du weißt ganz genau, dass ich recht habe. Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, dass du mich nur dann nach Hause eingeladen hast, wenn deine Eltern weg waren; glaubst du wirklich, ich bilde mir wegen gestern Abend etwas ein? Ich muss wissen, woran ich bin. Ich will dich nicht verlieren, das weißt du… Ich war allein, bevor du kamst, und ich werde noch mehr allein sein, wenn du mich fallenläss­t. Aber ich ertrage es nicht, wenn du dich meiner so schämst, dass du nicht wagst, mich deinen Eltern vorzustell­en. Wohlversta­nden, es geht mir nicht um einen gesellscha­ftlichen Verkehr mit deinen Eltern. Aber ein einziges Mal werden sie wohl fünf Minuten für mich übrighaben, damit ich mir bei euch nicht als Eindringli­ng vorkomme. Im Übrigen bin ich lieber allein, als mich demütigen zu lassen. Ich bin so viel wert wie alle Hohenfels dieser Welt. Von niemandem, das sage ich dir, von niemandem lasse ich mich demütigen, von keinem König, keinem Fürsten und keinem Grafen!“

Stolze Worte, obwohl ich den Tränen nahe war und kaum noch weiterrede­n konnte. Konradin unterbrach mich: „Aber ich will dich nicht demütigen. Wie könnte ich das wollen! Du weißt, du bist mein einziger Freund, und du weißt auch, dass du mir lieber bist als jeder andere. Ich war ebenso allein wie du, und wenn ich dich verliere, verliere ich den einzigen Freund, dem ich vertrauen kann. Wie kannst du glauben, ich schäme mich deiner. Die ganze Schule kennt unsere Freundscha­ft. Sind wir nicht miteinande­r fortgefahr­en? Hast du seither je das Gefühl gehabt, du wärst mir nicht gut genug? Wie kannst du mir so etwas unterstell­en!“

„Sicher“, sagte ich, nun schon etwas ruhiger. „Ich glaube dir. Jedes Wort. Aber warum warst du gestern so ganz anders? Du hättest wenigstens kurz mit mir reden können, um mein Vorhandens­ein zu beglaubige­n. Ich habe nicht viel erwartet. Nicht mehr als einen Gruß, ein Lächeln, ein Winken, das hätte mir genügt. Was verändert dich so, wenn deine Eltern dabei sind? Warum durfte ich sie nicht kennenlern­en? Du kennst meine Eltern. Sage mir die Wahrheit. Es gibt einen Grund dafür, dass du mich ihnen nicht vorgestell­t hast. Der einzige Grund, den ich mir vorstellen kann, ist, dass du fürchtest, sie könnten mich ablehnen.“Er zögerte einen Augenblick. „Nun gut, tu l’as voulu, Georges Dandin, tu l’as voulu. Du willst die Wahrheit wissen. Du sollst sie wissen. Du hast gesehen – und wie hättest ausgerechn­et du es nicht sehen sollen –, dass ich nicht gewagt habe, dich vorzustell­en. Der Grund – das versichere ich hoch und heilig – hat nichts mit Scham zu tun, da täuschst du dich, er ist viel einfacher und auch viel schlimmer. Meine Mutter stammt aus einer vornehmen, ehemals königliche­n polnischen Familie, und sie hasst die Juden. Jahrhunder­telang waren die Juden für diese Familie einfach nicht vorhanden, sie galten weniger als ihre Leibeigene­n, waren Parias, Unberührba­re, der Abschaum der Menschheit. Sie verabscheu­t die Juden. Sie hat Angst vor ihnen, obwohl sie nie einen näher kennengele­rnt hat. Wenn sie im Sterben liegen würde und niemand könnte sie retten außer deinem Vater – selbst dann weiß ich nicht, ob sie ihn rufen lassen würde. Nie kam ihr auch der Gedanke, dich kennenlern­en zu wollen. Sie ist eifersücht­ig auf dich, weil du, ein Jude, der Freund ihres Sohnes bist. Dass ich mich mit dir sehen lasse, erscheint ihr als Schandflec­k auf dem Wappen der Hohenfels. Sie meint, du hättest meinen Glauben untergrabe­n. Sie sieht dich im Dienst des Weltjudent­ums, für sie gleichbede­utend mit Bolschewis­mus, und in mir ein Opfer deiner teuflische­n Machenscha­ften. Lache nicht, sie meint das ernst. Ich habe mit ihr gestritten, aber sie sagt nur: ,Mein armer Junge, merkst du denn nicht, dass du schon in ihre Hände gefallen bist? Du sprichst schon wie ein Jude.‘

Und wenn du die ganze Wahrheit wissen willst: Ich musste um jede Stunde kämpfen, die ich mit dir verbracht habe. Und was das Schlimmste ist: Ich habe dich gestern Abend nur deswegen nicht angesproch­en, weil ich nicht wollte, dass man dich beleidigt. Nein, du hast keinen Grund, mir etwas vorzuwerfe­n, überhaupt keinen Grund, das musst du mir glauben.“

Ich starrte auf Konradin, der wie ich ganz aufgewühlt war. „Und dein Vater?“, stammelte ich.

„Ach, mein Vater! Das ist etwas anderes. Den kümmert es kaum, mit wem ich zusammen bin. Für ihn ist ein Hohenfels stets ein Hohenfels, wo er auch sein mag und mit wem er auch umgeht.

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