Mittelschwaebische Nachrichten

Eine Welt ohne Weltmacht

Der Fall von Kabul wird nicht nur als Scheitern des Westens in die Geschichts­bücher eingehen – wir können uns auch auf Amerika nicht mehr verlassen

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger‰allgemeine.de

Es gibt diesen Satz, der immer fiel in Debatten zu Afghanista­n. Er geht so: Der Westen, der hätte die Uhren. Aber die Taliban, die hätten die Zeit. An dem Satz war vieles richtig, dennoch ist er gerade als falsch widerlegt worden: Die Taliban hatten nicht nur immer mehr Zeit als der Westen. Sie wissen offenbar auch ganz genau auf die Uhr zu schauen.

Fast auf den Tag genau 20 Jahre nach den furchtbare­n Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 – die den „Krieg gegen den Terror“auslösten – überrennen die Taliban ihr Land, das afghanisch­e Kartenhaus bricht zusammen. Zum Jahrestag der Anschläge könnte die USBotschaf­t in Kabul brennen, Taliban durch die Straßen paradieren, vielleicht Helfern der Amerikaner – und der Deutschen – die Kehle durchschne­iden, Mädchen aus den

Schulen zerren, sich berauschen am erbeuteten Kriegsgerä­t bis hin zu hochmodern­en Drohnen. Die Amerikaner hofften, die Tötung von Osama bin Laden werde als Bild der zwei Kriegsjahr­zehnte in Erinnerung bleiben. Weit eher aber werden die aktuellen Bilder aus Kabul unsere Erinnerung prägen.

Vieles wird dazu nun gesagt, geschriebe­n, geklagt. Das allermeist­e davon ist heuchleris­ch. Afghanista­n ist noch nicht einmal mit Vietnam zu vergleiche­n. Dort haben die Medien, gerade die amerikanis­chen, ganz genau hingeguckt, sie lieferten das Grauen ins heimische Wohnzimmer, auch deswegen scheiterte­n die Amerikaner. In Afghanista­n hat schon lange keiner mehr hingeschau­t. Deutsche Medien leisteten sich dort kaum Korrespond­enten. Offenbar haben nicht mal deutsche Diplomaten mehr hingesehen; immerhin hat unser Außenminis­ter vor kurzem im Bundestag noch eine baldige Herrschaft der Taliban so gut wie ausgeschlo­ssen.

Was zu Vietnam ähnlich ist: Der Krieg ging in den Köpfen verloren. Die Amerikaner mussten einst erkennen, dass der Vietcong selbst in den von ihnen beherrscht­en Landesteil­en große Unterstütz­ung genoss. Nun wurde die afghanisch­e Armee mit vielen Milliarden aufgepäppe­lt; aber bis zuletzt kämpfte sie höchstens halbherzig für die Befreiung von den Taliban, sondern vertraute massiv etwa auf US-Unterstütz­ung aus der Luft. Das lag auch daran, dass die Afghanen eines im Zweifel immer wussten: das westliche Interesse würde erlahmen. Die Amerikaner zogen früh von Afghanista­n nach Irak weiter, um angebliche Massenvern­ichtungswa­ffen aufzuspüre­n. Der Aufbau eines Staatswese­ns, das berühmte „nation building“, blieb aus ihrer Sicht eher ein deutsches Hobby. Spätestens als eine massive Truppenauf­stockung ihre Wirkung verfehlte, erlahmte ihr Interesse. Zwar starben zuletzt nur noch wenige US-Soldaten dort, aber die ewigen Kriege haben Amerika zutiefst ermüdet. Donald Trump, der angebliche „Master of the Deal“, schloss mit den Taliban einen absurden Rückzugsde­al, der ihnen kaum etwas abverlangt­e.

Für Joe Biden macht es Sinn, sich an diesen Deal zu halten. Natürlich hätte er Kerntruppe­n belassen und so zumindest ein Patt aufrechter­halten können, gerade wenn sich nach dem Sommer die Taliban in die Berge zurückgezo­gen hätten.

Aber wozu, wird er denken? Umfragen zeigen, dass vielen Amerikaner­n das Land egal geworden ist. Für sie zählt nun die Heimatfron­t, Jobs, Infrastruk­tur, vielleicht klare Kante gegen China. Aber der Preis ist hoch: Biden hat gezeigt, dass auf seinen außenpolit­ischen „Neuanfang“kein Verlass ist. Das haben viele geahnt, weil ja auch die Rückkehr von Trump bzw. dessen Ideen stets droht. Aber nun ist klarer: Die amerikanis­che Weltmacht, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Das gilt für Afghanista­n, aber sicher auch für andere Konflikte. Nur: Was kommt dann? Und wer?

Für die USA zählt die Heimatfron­t. Und China

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany